Hamidreza Shirmohamadi

Die Musik Kurdistans

Ein Festival feiert die Vielfalt und Lebendigkeit der kurdischen Musikkultur.

Text: Martin Greve, 31.08.2023
 

Anfang des 20. Jahrhunderts hatten einige Reisende so genannte Phonographen im Gepäck, mit denen sie unter­wegs Stimmen und Gesänge auf Wachswalzen aufnehmen konnten. Der österreichische Archäologe und Anthropologe Felix von Luschan etwa nahm 1902 ein solches Gerät zu seinen Ausgrabungen in der Nähe des türkischen Gaziantep mit und hielt dort türkische und kurdische Lieder fest. Ähnlich der böhmische Theologiestudent Gustav Klameth, der sich am Silvestertag des Jahres 1912 in Jerusalem von einem assyrischen Priester aus Mardin (heute Süd­-Türkei) drei kurdische Lieder für den Phonographen vorsingen ließ.

Soweit wir wissen, sind diese beiden Tondokumente die ältesten Aufnahmen kurdischer Lieder überhaupt – Zufallsfunde, die nur durch viel Glück in den Phonogrammarchiven von Wien und Berlin erhalten blieben. Ein Jahrhundert später stießen die Musiker der Wiener Gruppe Danûk darauf und machten sich daran, neue Arrangements anzufertigen für diese alten Lieder aus der Grenzregion zwischen Syrien und der Türkei, aus der die Mitglieder der Gruppe während des Syrienkriegs selbst hatten fliehen müssen.

Danûk
Danûk © Maria del Mar Marais

Kurdistan-Festival :17. – 19. November 2023

Ein Wochenende lang wird auf den Elbphilharmonie-Bühnen die Vielfalt und Lebendigkeit der kurdischen Musik gefeiert, unter anderem mit der Sängerin Aynur und dem Kamantsche-Virtuosen Kayhan Kalhor.

Gegen das Verstummen

Überall suchen heute kurdische Musiker:innen nach alten Aufnahmen, um verstummte Traditionen neu zu beleben. Die wichtigste Quelle dabei sind natürlich nicht Phonographen­-Walzen, sondern alte Musikkassetten. Denn seit in den 1960er-­Jahren preisgünstige und transportable Kassettenrekorder auf den Markt kamen, begannen überall regionale Sammler:innen damit, mündlich überlieferte Geschichten und Lieder aufzuzeichnen, um sie so vor dem drohenden Verschwinden zu retten. Schon 1991 begann das Istanbuler Label Kalan Müzik mit seiner Archivserie, und auch das Teheraner Mahoor­-Institut veröffentlichte zahlreiche historische Aufnahmen iranisch-­kurdischer Musik.

Die Region Dersim

Die Brüder Metin und Kemal Kahraman, in der Türkei zunächst bekannt für ihre politischen Lieder, sammelten und interpretierten über Jahrzehnte hinweg Lieder alter Leute aus ihrer Heimatregion Dersim, einem politisch stark aufgeladenen Gebiet, das heute im Osten Anatoliens liegt. Sie lösten damit ein wahres Dersim­-Revival aus, in dessen Folge immer weitere Musiker:innen aufstiegen. Maviş Güneşer etwa, die zwar selbst nicht aus dieser Region stammt, aber jahrelang im Ensemble der Kahramans sang und nun historische Klagelieder über die Massaker und Kämpfe von Dersim 1937/1938 rekonstruiert hat; oder Aynur, die große kurdische Sängerin aus dem Süden von Dersim; und schließlich Ahmet Aslan, in der Türkei längst ein Superstar. Insbesondere seine Stimmtechnik ist einzigartig: Er beendet die meisten musikalischen Phrasen mit einer Art tiefem Seufzer, der allerdings weniger eine traditionelle Gesangstechnik von Dersim war als vielmehr eine Folge des hohen Alters der von privaten Sammlern aufgenommenen Sänger. In Ahmet Aslans Liedern wird es zum künstlerischen Stilmerkmal.

Ahmet Aslan: Konser Kayıtları (2021)

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Ahmet Aslan
Ahmet Aslan Ahmet Aslan © Muhsin Akgun

Was ist Kurdistan?

Der Name Kurdistan ist ein Traum, eine Hoffnung, eine Illusion, für andere auch ein Albtraum, eine Rechtfertigung für Krieg und Terror, die Sehnsucht nach einem weiteren Nationalstaat in einer Region, in der schon so viele andere mit ethnischen Säuberungen und Diskriminierung Unheil brachten.

Als Landschaftsname ist Kurdistan (das »Land der Kurden«) seit Jahrhunderten geläufig, einen kurdischen Nationalstaat aber hat es nie gegeben. Nur gleichnamige Provinzen bestanden sowohl im Osmanischen Reich wie im Iran, 1946 sogar – unter dem Schutz der UdSSR – eine kurzlebige Republik Kurdistan (auch Republik Mahabad) im Nordwesten Persiens. Einige einzelne kurdische Regionen konnten sich Eigenständigkeit erkämpfen, etwa die Autonome Region Kurdistan seit 1992, als die Vereinten Nationen im Nordirak eine Flugverbotszone ausriefen, oder Rojava im Norden Syriens, das 2013 im Zuge des syrischen Bürgerkriegs de facto autonom wurde, seit dem Ende des so genannten Islamischen Staates jedoch bedrängt wird von der syrischen Zentralregierung im Süden und der Türkei im Norden.

Besonders homogen aber wäre ein kurdischer Staat ohnehin nicht, politisch schon gar nicht, doch ebenso wenig sprachlich, religiös, kulturell oder musikalisch. Starke Unterschiede bestanden stets zwischen osmanisch­-städtischer und ländlicher Bevölkerung, zwischen tribalen und nicht­tribalen Kurd:innen. Überdies leben nicht nur Kurd:innen in der Region, sondern auch zahlreiche Türkinnen bzw. Turkmenen, Araber und Assyrerinnen bzw. Chaldäer. Bis zum Völkermord an den Armenier:innen von 1915 – an dem sich auch zahlreiche kurdische Menschen beteiligten – waren diese die größte Minderheit.

© dpa/infografik / Ausschnitt barbeitet von groothuis

In vielen Sprachen

Kurdische Sprachen gehören zur indoeuropäischen Sprachfamilie und darin zur iranischen Sprachgruppe. Kurdisch ist also weder mit Arabisch verwandt noch mit Türkisch, wohl aber mit Persisch. Die wichtigsten kurdischen Dialekte sind im Norden Kurmandschi und im Süden Sorani. Wie komplex das Verhältnis zwischen sprachlichen und ethnischen Kategorien aber sein kann, zeigt der Fall des Zaza (oder Kirmandsch): Rein linguistisch gehört Zaza anscheinend nicht zu den kurdischen Sprachen, sondern ist eher verwandt mit dem nordwestiranischen Gûranî. Viele der rund zwei Millionen Zaza-Sprecher im östlichen Anatolien aber empfinden sich eben doch als kurdisch – andere wiederum nicht.

Die Playlist zum »Kurdistan-Festival«

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Die kurdische Diaspora

Insgesamt geht man heute von rund 35 Millionen Kurd:innen aus, etwa die Hälfte davon in der Türkei, jeweils gut sechs Millionen im Irak und im Iran und über zwei Millionen in Syrien und im Libanon. Aber stimmen diese Zahlen überhaupt noch? Leben nicht längst viel mehr kurdische Menschen außerhalb von »Kurdistan«? Die kurdische Geschichte des 20. Jahrhunderts ist gezeichnet von Gewalt, angefangen von verschiedenen blutig niedergeschlagenen Aufständen in der Türkei über den 40-­jährigen bewaffneten Konflikt zwischen der türkischen Armee und der PKK mit seinen 40.000 Toten bis hin zu dem Gift­gasangriff der irakischen Regierung auf die kurdisch­-irakische Stadt Halabdscha 1988 mit alleine 3.000 bis 5.000 Toten. Zuletzt massakrierte der so genannte Islamische Staat in den Jahren 2014 bis 2017 vor allem kurdische Jesi­den, vergewaltigte und verschleppte ihre Frauen.

»Insgesamt geht man heute von rund 35 Millionen Kurd:innen aus.«

All die Aufstände, Massaker und Kriege, dazu die wirtschaftliche Armut vertrieben immer mehr Menschen aus den Bergen und Dörfern in die Städte der Region, dann in entfernte Großstädte wie Istanbul oder Mossul. Viele kurdische Dörfer sind heute vor allem im Winter verlassen, und nur noch im Sommer kommen die früheren Bewohner und ihre Nachkommen zu Besuch. Als europäische Länder wie Deutschland, Österreich, die Schweiz, Frankreich, Belgien, Schweden und die Niederlande ab 1961 Arbeitskräfte aus Anatolien anwarben, aber auch verstärkt politische Geflüchtete aufnahmen, sahen viele Kurd:innen die Chance für ein neues Leben gekommen.

In Europa entstand ein dichtes Netzwerk kurdischer Organisationen, Vereine, Kulturzentren, Frauengruppen, Kindertagesstätten und Elternvereine. Regelmäßig finden große Konzerte und Festivals mit kurdischen Sänger:innen statt, die auch Menschen anderer Herkunft anziehen. Tragisch bekannt wurde das Centre culturel kurde Ahmet-Kaya in Paris, benannt nach dem prominenten türkisch-­kurdischen Sänger Ahmet Kaya, der 2000 in seinem Pariser Exil gestorben war: In diesem Kulturzentrum der kurdischen Gemeinde erschoss im vergangenen Dezember ein rechtsradikaler Attentäter drei Menschen, darunter den kurdischen Sänger Mîr Perwer.

Vielfältige Musiktraditionen

Eine große Mehrheit von Kurd:innen sind sunnitische Muslime, und alle bekannten religiösen Gesangsformen des Islam wie Gebetsruf, Koranlesung und verschiedene Hymnen sind auch unter kurdischen Gruppen verbreitet, ebenso die Traditionen einiger Sufi-­Orden, insbesondere der Qādirīya und Naqschbandīya.

Im Kult der Ahl-e Haqq im südlichen Iran wird eine kleine Langhalslaute namens tembûr zur Begleitung sakraler Lieder (kalām) gespielt. In den religiösen Versammlungen singen die Gläubigen so genannte nazm, metrisch frei in Ruf und Antwort zwischen Sänger und Gemeinde oder auch im Chor, teilweise begleitet durch Händeklatschen. Sowohl die Spieltechnik der tembûr als auch die Gesangstechnik ähneln persischer Kunstmusik.

Tembûr-Solo (Ahl-e Haqq)

Bei Jesid:innen im Nordirak, der Türkei und in Armenien ist die Kaste der qawāl für die Rezitation bzw. den Gesang religiöser Hymnen (qawl) zuständig. Vor allem das Instrumentenpaar šabbāba (Längsflöte) und daff (Rahmentrommel mit Zimbeln) gilt als heilig und darf lediglich von einem qawāl gespielt werden. Eine Minderheit von Kurmandschi­ und Zaza sprechenden Menschen in der Türkei gehört dem Alevitentum an. In ihren religiösen Versammlungen spielte historisch die Langhalslaute tomir eine große Rolle, heute praktisch nur noch die moderne türkische bağlama. Eine spezielle Rolle nimmt hier die Region Dersim weit im Nordwesten des klassischen Kurdistan ein, mit ihrer Mehrheit von Zaza­-sprachigen Alevit:innen.

Dieses Dersimer Alevitentum ist heute mit dem anatolischen Alevitentum weitgehend verschmolzen, trug jedoch bis ins späte 20. Jahrhundert hinein starke eigene Züge. Geistliche Führer (dedes) sangen in ihren Zeremonien ein reiches Repertoire, das die Dersimer Gläubigen regelmäßig zu Tränen rührte und in Trance versetzte. Die wichtigste literarische und musikalische Tradition in Dersim jedoch sind Totenklagen, die alleine oder begleitet von einzelnen Instrumenten wie der kleinen Laute tomir oder der europäischen Geige gesungen werden. Die meisten erhaltenen Lieder erzählen von den Massakern der türkischen Armee an den Dersimern in den Jahren 1937 und 1938. Mittlerweile wechselten die meisten Musiker:innen jedoch von der kleinen tomir zur größeren bağlama, als deren bester Vertreter heute Erdal Erzincan gilt.

Erdal Erzincan: Esti Seher Yeli

Kurdische Musik im sowjetischen Rundfunk

Ausgerechnet das sowjetisch­-armenische Radio Eriwan sendete ab den 1930er-Jahren erstmals regelmäßig auf Kurdisch, und die Programme wurden weit über Armenien hinaus via Kurzwelle gehört – in der Türkei und in Syrien, im Irak, Iran und in mehreren Sowjetrepubliken. Jahrzehntelang lernten Kurd:innen so über Ländergrenzen hinweg erstmals Dichter-Sänger (dengbêj) aus verschiedenen kurdischen Regionen kennen, darunter große Namen wie Şakiro, Reso und Karapetê Xaco.

Später, während der 1950er­- und 1960er-­Jahre, sendete man auch in Teheran und Bagdad auf Kurdisch, und neue kurdische Sänger:innen stiegen auf, etwa Mihemed Arif Cizrawî und sein Bruder Hesen Cizrawî, Mêryem Xan, Aram Tigran und Ayşe Xan. In der Türkei hingegen blieb Kurdisch lange Zeit umstritten; erst 2004 ging auch dort mit TRT Kurdî ein staatliches kurdisches Fernsehprogramm auf Sendung. Für Musiker:innen in der Türkei blieb es riskant, sich selbst als kurdisch zu bezeichnen.

Zwar wurden schon früh auch in der Türkei einige kurdische Sänger wie Diyarbakırlı Celâl Gülses oder später İbrahim Tatlıses landesweit beliebt, allerdings nur mit türkisch­sprachigen Liedern. Erst Ende der 1970-er­Jahre begann auch der Aufstieg erster kurdischer Sänger:innen aus der Türkei, darunter Şivan Perwer und später Nizamettin Arıç. Nach 1991, als das Verbot der kurdischen Sprache in der Türkei aufgehoben wurde, entwickelte sich Istanbul schließlich zu einem Zentrum kurdischer Musikproduktion. Kurdische Musik verlor allmählich ihre politischen Implikationen, und kurdisch singende Musiker:innen wie Aynur oder die Gruppe Kardeş Türküler wurden in der ganzen Türkei und darüber hinaus populär. Immer neue Instrumente erschienen in solchen Gruppen, darunter die elektrische bağlama, internationale Perkussionsinstrumente, Keyboards, Schlagzeug, Bass oder Gitarre.

Livestream: Aynur in der Elbphilharmonie (März 2022)

Neue Verbindungen :Über die Künstler:innen des »Kurdistan-Festivals«

Bis auf einige Ausnahmen leben die meisten der Musiker:innen des »Kurdistan­-Festivals« in der Elbphilharmonie nicht unmittelbar in der Region. Die Gruppe Kurdophone ist in Wien daheim,  Danûk in ganz Europa unterwegs. Aynur hat sich in Amsterdam niedergelassen, Astare Artner in Köln und Ahmet Aslan in Istanbul, während Kayhan Kalhor nach Jahren in den USA mittlerweile in den Iran zurückgekehrt ist.

In Europa versuchen eine Reihe dieser kurdischen Musiker:innen, Jazz, Flamenco, Rock, westliche Klassik oder zeitgenössische Neue Musik in ihre Musik zu integrieren. In der Gruppe Kurdophone etwa sind iranisch­-kurdische und österreichische Musiker:innen versammelt. Taner Akyol aus Dersim schrieb ein Stück für Kammerorchester (»Tertele«), das 2018 in der Elbphilharmonie uraufgeführt wurde. Ahmet Aslan, ebenfalls aus Dersim, lernte im Zuge seines Studiums an der Rotterdamer Weltmusikakademie Codarts unter anderem Flamenco-Gitarre. Die Arrangements für Aynurs Album »Hevra / Together« aus dem Jahr 2014 stammten von dem spanischen Musiker Javier Linón; inzwischen arbeitet die Sängerin auch mit westlich-klassischen Musiker:innen oder zuletzt in Hamburg mit der NDR Bigband zusammen.

Andere bemühen sich wie Danûk um alte Musikaufnahmen und die Wiederbelebung verstummter Lieder. Ali Doğan Gönültaş beispielsweise, der aus der entlegenen Kleinstadt Kiğı stammt, einst ein armenischer Bischofssitz, später vergessen und schließlich im Zentrum der Kämpfe zwischen PKK und türkischer Armee zur No-­Go-­Area geworden. Gönültaş war wohl der Erste, der selbst dort nach vergessenen Liedern suchte und sie dann neu interpretierte. Aber auch neue Kombination alter Traditionen werden in Europa versucht, etwa in der musikalischen Begegnung von Gönültaş mit dem Dichter­-Sänger Saîdê Goyî aus der 450 Kilometer weit entfernten Provinz Sirnak im irakisch-türkischen Grenzgebiet. Oder, beim Festival, in dem musikalischen Treffen des armenischen Duduk-Spielers Vardan Hovanissian mit dem Dersimer Sänger und Saz-­Virtuosen Emre Gültekin.

Und schließlich in den großen Gipfeltreffen dieses Festivals: Wenn der bağlama-­Virtuose Erdal Erzincan aus dem ostanatolischen Erzurum auf den kurdisch-iranischen Kamantsche-Spieler Kayhan Kalhor trifft – der sich anderntags mit der Sängerin Aynur und dem Hamburger Ensemble Resonanz zusammentut: Seine Komposition »Silent City« ist der Stadt Halabdscha gewidmet, die der irakische Diktator Saddam Hussein 1988 fast vernichten ließ.

 

Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 3/23).

Kurdistan-Festival :Die Konzerte im Überblick

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