LOVE Est. 2023

Love est. 2023. Wie liebt Hamburg?

Ein Community-Projekt zum vielleicht schönsten Thema der Welt.

Einmal auf der Bühne im Großen Saal der Elbphilharmonie stehen – dieser Traum geht für einige Hamburgerinnen und Hamburger am 14. Mai 2023 in Erfüllung. Passend zum Motto »Liebe« des diesjährigen Musikfests, startete die Elbphilharmonie 2022 ein mehrteiliges Community-Projekt, zu dem alle Hamburgerinnen und Hamburger eingeladen waren und dessen Ergebnisse im Mai zusammen mit dem Ensemble Resonanz präsentiert werden. Unter dem Titel »Love est. 2023. Wie wir lieben« gingen die Teilnehmenden seit September den Mysterien der Liebe auf den Grund und suchten unter der Anleitung von erfahrenen Künstler:innen und Pädagog:innen Antworten auf eine Frage, die die Menschheit seit jeher beschäftigt: »Was ist Liebe?«

Nach einer gemeinsamen Auftaktveranstaltung im Herbst kamen am 20. Januar 2023 erstmals wieder alle Beteiligten zum »Bergfest« im Kleinen Saal der Elbphilharmonie zusammen, um ihre Projekt-Ergebnisse aufzuführen und sich über ihre Erfahrungen auszutauschen. Denn so vielfältig wie die Menschen der Stadt, so unterschiedliche sind auch ihre Geschichten und ihre Gedanken zum Thema Liebe. Die einen verbinden damit besondere Menschen, ihre Familie, den Partner, die Partnerin, oder ihre Freundinnen und Freunde. Andere lieben ihr Haustier, ein Hobby oder einen für sie besonders wertvollen Gegenstand. Wieder andere lieben ihre Heimat und die Natur. Und so vielfältig wie die Liebe selbst, sind auch ihre Erscheinungsformen. Die einen verleihen ihrer Zuneigung durch Worte Ausdruck, manchmal genügt aber auch ein kurzer Blick, eine kleine Bewegung, oder eine liebliche Melodie. Deshalb standen unterschiedliche Workshops mit verschiedenen Kunstformen zur Auswahl.

LOVE Est. 2023 LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini
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LOVE Est. 2023 LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini
LOVE Est. 2023 LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini
LOVE Est. 2023 LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini

Kunst als Spiegel der Seele

Unter den 118 Teilnehmenden ist auch Pavlo Kruzhnov. Der 31-Jährige mit den hellblonden Locken ist im März 2022 aus Kyjiw nach Deutschland geflohen. Seitdem versucht er, in Hamburg Fuß zu fassen, besucht Sprachkurse und nimmt als Sprecher beim ukrainisch-deutschen Radiosender »UVoice Radio« die Nachrichten aus einer ukrainischen Sicht in den Blick. Denkt er an Liebe, denkt er in letzter Zeit häufig an seine Familie, an seine Mutter und seine zwölfjährige Schwester, die in ihrer Heimat, auf okkupiertem Gebiet im Osten der Ukraine geblieben sind. Den Kontakt zu halten, ist schwierig. Doch die Liebe zur Familie hat Pavlo dazu verleitet, sich für das Community-Projekt der Elbphilharmonie anzumelden. Denn für den ausgebildeten Schauspieler ist Kunst ein Lebenselixier und der beste Weg, sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen. »Ich glaube, Kunst ist immer auch eine Art seelische Therapie«, erzählt er auf Englisch. »Man muss sehr vieles hinterfragen: ›Wer bin ich? Wie fühle ich mich? Was will ich ausdrücken? Wie schaffe ich es, dass andere mich verstehen?‹«

Pavlo hat sich für den Workshop »Body & Soul« entschieden. Dort steht der Körper als Ausdrucksmittel der Seele im Zentrum. Denn Körpersprache ist universell verständlich, kennt keine Sprachbarrieren. Für Pavlo ein entscheidender Punkt, denn trotz seiner großen Fortschritte im Deutschkurs, stellt ihn die Sprache im Alltag immer wieder vor Herausforderungen. »Die erste Infoveranstaltung zu dem Projekt war komplett auf Deutsch«, erinnert er sich. »Und ich dachte: ›Okay, ich bleibe zehn Minuten und gehe dann wieder‹.« Als jedoch der Workshop vorgestellt wurde, verpufften seine Bedenken. »Die Dozentin fragte mich: ›Hast du einen Körper? Hast du eine Seele? Ja? – Dann bist du hier genau richtig.‹« Und sie sollte Recht behalten. Denn ein Großteil der Kommunikation verlief nonverbal. Pavlo erinnert sich an ein Schlüsselerlebnis, das er gleich zu Beginn des Workshops hatte: »Bei einer Übung sollten wir eigentlich nur die Bewegungen der anderen imitieren. Doch meine Übungspartnerin und ich fingen an zu improvisieren und probierten verschiedene Gesten aus, tasteten uns an unsere Grenzen heran, berührten uns. Irgendwann nahm ich sie auf den Rücken und trug sie durch den Raum. Als die Musik im Hintergrund verstummte, wurden wir beide von unseren Emotionen übermannt und brachen gleichzeitig in Tränen aus, weil wir realisierten, dass wir soeben einen tiefgründigen Dialog geführt hatten, ohne auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben – einen Dialog, nur über den Körper! Ich wusste gar nicht, dass ich dazu in der Lage bin. Es war verrückt.«

Pavlo Kruzhnov / LOVE Est. 2023 Pavlo Kruzhnov / LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini
Pavlo Kruzhnov und Sanjana Rastogi / LOVE Est. 2023 Pavlo Kruzhnov und Sanjana Rastogi / LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini
Pavlo Kruzhnov und Sanjana Rastogi / LOVE Est. 2023 Pavlo Kruzhnov und Sanjana Rastogi / LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini

Eine Giraffe als Liebesbeweis

Den schönsten Moment des Workshops verbindet Pavlo aber mit seiner Mutter. Bei einer anderen Übung sollten alle Teilnehmenden einen bestimmten Gegenstand mitbringen, der für sie untrennbar mit der Liebe verknüpft ist. Pavlo hatte eine Giraffe aus Stoff dabei, die seine Mutter als Geschenk zu seinem 30. Geburtstag genäht hat. Als Kind hielt er sich nämlich eine Zeit lang für eine Giraffe. Die Sommersprossen auf seinem Rücken erinnerten ihn an die dunklen Flecken im Fell der schlaksigen Tiere. Die Stoffgiraffe ist einer der wenigen Gegenstände, die ihm als Erinnerung an seine Mutter geblieben sind. Durch die große Distanz zur Familie hat sich jedoch sein Verständnis von Liebe stark verändert. »Liebe«, erzählt er, »habe ich bisher immer als die partnerschaftliche Liebe zwischen zwei Menschen verstanden. Während des Projekts habe ich aber gelernt, dass es bei mir, und auch bei vielen anderen, vorrangig um die Familien, und die familiäre Liebe ging.« Wann er seine Mutter und seine Schwester wiedersehen wird, weiß er noch nicht. Aber er glaubt fest daran, dass sie eines Tages wieder vereint sein werden. Bis dahin, versuche er sein Bestes zu geben, sein neues Leben in Hamburg zu leben, und seine Familie so gut es aus der Ferne geht zu unterstützen. Die Giraffe steht wie ein Monument der Hoffnung in seinem Zimmer und erinnert ihn immer an seine Liebsten.

Selbstliebe als Schlüssel zur Nächstenliebe

Sanjana Rastogi (30) ist ebenfalls ein Teil von »Body & Soul«. Im indischen Lakhnau/Uttar Pradesh geboren und im westafrikanischen Ghana aufgewachsen, ist auch ihre Familie über mehrere Kontinente verstreut. Für sie ist die Fernbeziehung zu ihrer Familie aber längst schon alltäglich geworden. Sanjana wohnt seit acht Jahren in Hamburg und arbeitet in einem Unternehmen für soziales Wohnen. Als das Community-Projekt in einer der Wohneinheiten vorgestellt wurde, kribbelte es der Hobby-Tänzerin sofort in den Füßen: »Ich bin keine berühmte Sängerin und keine berühmte Tänzerin. Trotzdem öffnete sich hier plötzlich die Möglichkeit, auf einer Bühne zu stehen – in der Elbphilharmonie! Hier gehört die Bühne nicht nur den großen Stars, sondern auch normalen Menschen wie dir und mir.« Der Workshop habe ihr sehr viel Selbstvertrauen gegeben, weil sie in einem geschützten Raum ihre Stärken und Schwächen austesten und noch besser kennenlernen konnte. Dadurch habe sich nicht nur das Verhältnis zu sich selbst, sondern auch das zu ihren Mitmenschen verändert. »Das Projekt hat mir gezeigt, dass ich meine Grenzen überschreiten und jede Menge erreichen kann, und dass alle Menschen auf ihre Art und Weise Stars sind.« Sie selbst würde diese Erkenntnis so formulieren: »Nur, wer mit sich selbst im Reinen ist und sich selbst liebt, ist in der Lage, andere Menschen zu lieben.«

Sanjana Rastogi / LOVE Est. 2023 Sanjana Rastogi / LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini
Pavlo Kruzhnov & Sanjana Rastogi / LOVE Est. 2023 Pavlo Kruzhnov & Sanjana Rastogi / LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini

Mit Liebe für die Kunst

Auch Sarah Schneider (29) liebt es zu tanzen. Deshalb hat sie ihr Hobby nach der Schule zum Beruf gemacht und Tanzpädagogik studiert. Heute arbeitet sie freiberuflich als Tanzlehrerin für Kinder und Jugendliche. Da sie seit 2017 aber auch in Teilzeit im Backstagebereich der Elbphilharmonie tätig ist, konnte sie an dem »Elphi«-Workshop teilnehmen, der sich eigens an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses richtete, um den Teamgeist zu stärken. Tatsächlich ist Sarah trotz ihrer langjährigen Erfahrung immer wieder von der Größe des Betriebs überrascht. »Ich habe Menschen kennengelernt, die ich zuvor noch nie gesehen habe, obwohl wir alle in der Elbphilharmonie arbeiten«, gesteht sie. Allein dafür habe sich der Workshop gelohnt. Denn durch das gemeinsame Musikmachen sei der Umgang mit den Kolleginnen und Kollegen tatsächlich herzlicher und liebevoller geworden. Und persönlich freut sie sich: »Dass ich bald im Großen Saal auf der Bühne stehen kann, ist eine große Sache. Ich habe in diesem Haus schon so viel erleben dürfen, so viele Ecken schon gesehen und so viele Leute kennengelernt – lauter positive Erinnerungen. Aber auf der großen Bühne stand ich noch nie. Da kann ich bald einen Haken hinter machen.«

Sarah Schneider / LOVE Est. 2023
Sarah Schneider / LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini

Patentrezepte gibt es nicht

Ulrike van der Ven hingegen hat ihr Arbeitsleben schon hinter sich und genießt seit einiger Zeit ihren Ruhestand. Wobei von Ruhe eigentlich keine Rede sein kann. Nachdem sie über 35 Jahre als Zahnmedizinerin in Hamburg gearbeitet hat, findet die 65-Jährige nun endlich wieder Zeit, sich ihren Hobbies zu widmen. Früher hat sie Querflöte gespielt, bei »Love est. 2023« wollte sie aber etwas Neues ausprobieren und hat sich für den »Lyrics«-Workshop entschieden, wo sie zusammen mit anderen Musikbegeisterten eigene Songs komponierte. Vor allem den intergenrationalen Austausch empfand sie als großen Gewinn. »Es hat mich sehr berührt, dass die Jüngeren noch ganz andere Fragen an die Liebe haben. Zum Beispiel: ›Wie kann man so etwas Komplexes lernen?‹« Dann fügt sie schmunzelnd hinzu: »Wir Älteren waren da schon etwas abgeklärter.«

Ein Patentrezept für die Liebe kann sie aber trotz ihrer großen Lebenserfahrung nicht geben – möchte sie auch nicht. »Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass in den berühmten Love-Song und in den Liebesfilmen immer die klassische, romantische Liebe glorifiziert wird. Die Menschen mögen das ja, es muss also ein gewissen Verlangen, eine gewisse Sehnsucht danach geben. Wenn man die Liebe aber selbst beschreiben soll, sieht es oft ganz anders aus.« Insofern müsse jede:r zu einem individuellen Verständnis von Liebe gelangen. Ein paar Zutaten, die ihr besonders erfolgsversprechend erscheinen, verrät sie dann aber doch: »Mit Neugierde und Fantasie, Beharrlichkeit und Disziplin kann man schon einiges erreichen.«

Ulrike van der Ven / LOVE Est. 2023
Ulrike van der Ven / LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini

Selbstbewusst und offenherzig

Würde man Sheida Mohammadi fragen, was sie dieser Auflistung noch hinzufügen würde, sie würde »Mut« sagen. Denn das Projekt hat ihr einiges an Überwindung abverlangt. Im »Expression«-Workshop hat sie eine Choreografie erarbeitet, die das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft reflektierte. Vor allem der enge Körperkontakt war für sie zu Beginn recht befremdlich und das, obwohl sie als Kind viel körperliche Zuneigung erfahren hat. Sheida ist im Iran, in der Nähe von Teheran, aufgewachsen und studiert nun seit drei Jahren Kulturwissenschaften in Lüneburg. Neben dem Studium kellnert die 23-Jährige in einem Hamburger Restaurant. Dort, so sagt sie, habe sie die größte Veränderung an sich beobachtet: »Ich bin eigentlich eher introvertiert. Aber das Projekt hat mir geholfen, aufgeschlossener gegenüber fremden Menschen zu sein. Bei der Arbeit habe ich früher immer abkassiert und wollte so schnell wie möglich wieder vom Tisch weg. Heute betreibe ich Small-Talk und mache sogar Witze!« Durch den Workshop hat sie zu sich selbst gefunden und geht nun selbstbewusst und offenherzig auf Menschen zu – für Sheida ist auch das eine Facette der Liebe.

Sheida Mohammadi / LOVE Est. 2023
Sheida Mohammadi / LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini

Vom Einzelkämpfer zum Team-Player

Auch Jamil Alhamo hat am »Expression«-Workshop teilgenommen. 2017 ist er mit seiner Familie von Syrien nach Hamburg gezogen, lernte die Sprache und nahm Unterricht in Schauspiel, Tanz und Gesang. In diesem Jahr macht er sein Abitur an der Stadtteilschule Hamburg Mitte, und auch künstlerisch hat er sich stark weiterentwickelt. Dass er all das aus eigener Kraft geschafft hat, darauf ist er sehr stolz. »Ich wollte eigentlich immer alles allein schaffen. Das machte mich unantastbar, ich wollte bloß niemanden an mich heranlassen«, erzählt er rückblickend. Beim »Expression«-Workshop war jedoch Teamgeist gefragt, und tatsächlich gelang es Jamil, sich fallen zu lassen und den anderen zu vertrauen. »Zu wissen, dass ich hier nicht alles allein tragen muss, war ein ungewohntes Gefühl – gleichzeitig aber auch sehr befreiend.« Von diesem Gefühl möchte er sich auch in Zukunft eine Scheibe beibehalten, auch wenn er genau weiß, dass er sich dafür etwas Zeit geben muss. Für diese Erfahrung ist er sehr dankbar und freut sich: »Dass eine Institution wie die Elbphilharmonie neben Musik auf allerhöchstem Niveau auch einen Platz hat für niederschwellige Angebote, bei dem alle mitmachen können, das ist schon klasse.«

Jamil Alhamo / LOVE Est. 2023
Jamil Alhamo / LOVE Est. 2023 © Isabela Pacini

Vorfreude auf den großen Auftritt

Nach der Workshop-Phase und dem »Bergfest« geht es nun mit großen Schritten dem Auftritt in der Elbphilharmonie entgegen. Von den 118 Menschen, die an den Workshops teilgenommen haben, wollen 84 bis zum Ende dabei bleiben. Auch Pavlo, Sarah, Ulrike, Sheida und Jamil lassen sich diese Gelegenheit nicht entgehen. Die vielen Proben, die bis dahin noch anstehen, nehmen sie gern in Kauf – vor allem, weil ihnen die Menschen über Zeit ans Herz gewachsen sind. »Ich mag diese heterogene Gruppe«, sagt Sarah. »Es entsteht sofort eine tolle Gemeinschaft und man führt echt coole Gespräche«. Sanjana wird leider nicht dabei sein können, weil sie während der Probenphase ihre Familie in Ghana besucht. Zur Aufführung am 14. Mai will sie aber wieder in Hamburg sein, um mit ihren Workshop-Partner:innen mitzufiebern und vor Ort zu sein, wenn es heißt: »So liebt Hamburg!«

Text: Dominik Bach, Stand: 13. Februar 2023

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