Alex Potter

Elbphilharmonie erklärt: Countertenor

Countertenöre können überirdisch hoch und schön singen. Was ist ihr Geheimnis? Der Sänger Alex Potter erklärt sein besonderes Stimmfach.

Wenn Männer so singen wie Frauen

Am Klang der Stimme erkennt man normalerweise auch mit geschlossenen Augen, ob man es mit einer Frau oder einem Mann zu tun hat. Bei Countertenören ist das nicht so einfach: Diese männlichen Vokalisten singen in der Stimmlage einer Frau.

 

»Wie die Bee Gees, nur gepflegter«

Alex Potter, Countertenor

Star-Countertenor in der Elbphilharmonie

Jakub Józef Orliński
Jakub Józef Orliński © Jiyang Chen

Gleich zweifach ist der gefeierte Countertenor Jakub Józef Orliński in der Saison 2022/23 zu Gast in der Elbphilharmonie

Mit Brusthaar und Quietschestimme

Das (akustische) Spiel mit den Geschlechterrollen hat Tradition in der Musik – zum Beispiel im Pop. David Bowie inszenierte sich mit schillernd homoerotischen Auftritten als androgyne Gestalt außerhalb der Zeit. Und bei den Bee Gees musste man schon zweimal hinhören, um sicher zu sein, ob da Männer oder Frauen ins Mikro quietschen. (Das Brusthaar unter den weit aufgeknöpften Hemden sorgte dann für Klarheit.) Überhaupt lebte die Disco-Epoche vom Kontrast zwischen tiefen Beats und extrem hohen Männerstimmen – zu hören auch bei Dieter Bohlens »Modern Talking«.

Nicht von dieser Welt

Aber schon etliche Jahrhunderte zuvor gab es Musikstars, die mit allen Rollenklischees brachen und mit ihren überirdischen Stimmen Frauen wie Männer elektrisierten: Kastraten. Als Helden und Götter (und manchmal auch im Frauenkostüm) stürmten sie die Opernbühnen und verkörperten – ähnlich wie Bowie – Wesen, die nicht von dieser Welt zu sein schienen. Dafür zahlten sie einen hohen Preis: Vom Publikum auf der Bühne für ihre virtuosen Gesangskünste ekstatisch geliebt, standen die Kastraten im normalen Leben außerhalb der Gesellschaft. Doch ihr Ruhm überdauerte die Zeit. Manch einen Namen kennt man noch heute, zum Beispiel Farinelli. Im gleichnamigen Kostümfilm ließ der belgische Regisseur Gérard Corbiau den wohl bekanntesten Kastraten wiederauferstehen. Um einen passenden Höreindruck zu liefern, mischten Tontechniker die Stimme eines Countertenors mit der einer Koloratursopranistin.

Szene aus dem Film »Farinelli«

Der Musik geopfert

Vom 16. Jahrhundert an waren in Italien unzählige Chorknaben entmannt worden, um ihre hohe Stimme zu erhalten und weiter auszubilden. Mit der Kastration bleibt nämlich der Kehlkopf klein wie der eines Kindes, doch Lunge, Brustkorb und Muskeln wachsen auf die Größe eines gesunden Mannes. Der Klang ist rein und klar, sogar höher als die Stimme von Sopranistinnen – kombiniert mit der Kraft eines Mannes. Die Kastraten, die die Operation überlebten und tatsächlich talentiert genug waren, verzauberten ihre Zeitgenossen später mit überirdischen Koloraturen auf einem schier endlosen Atem. Heutzutage gibt es keine Kastraten mehr. Der letzte Kastratensänger, Alessandro Moreschi, starb 1922. Von ihm gibt es sogar eine Tonaufnahme (wobei Farinelli & Co stilistisch sicher ganz anders sangen).

Tonaufnahme des letzten Kastratensängers Alessandro Moreschi

Die Haupt-Stimmlagen

Frauen

  • Sopran
  • Mezzosopran
  • Alt

Männer

  • Countertenor / Altus
  • Tenor
  • Bariton
  • Bass

Die Technik der hohen Töne

Das Revival der Barockmusik stellt die Ausführenden natürlich vor ein Problem: Wer soll die Partien singen, die eigentlich für Kastraten komponiert sind? Vielfach übernehmen Frauen diese Rollen. Aber immer öfter kommen Countertenöre (auch »Altus« genannt) wie Alex Potter oder Philippe Jaroussky zum Zuge. Sie verwenden eine besondere Gesangstechnik: Statt der normalen Bruststimme nutzen sie die Kopfstimme, auch Falsett genannt. Das setzt ein ziemliches Training und Talent voraus, denn bei ungeübten Sängern kommt in der Höhe nur ein dünnes Fisteln heraus.

Kastraten konnten Tonhöhen bis zum dreigestrichenen d oder 1175 Hertz erreichen. Wie hoch das ist?

Für einen vollen Ton müssen sich die Stimmlippen im Kehlkopf möglichst vollkommen und kontrolliert schließen, ohne dass der Atemdruck den Ton gepresst klingen lässt. Eine ständige Balance zwischen Nicht-Hauchen und Nicht-Schrill-Werden. Außerdem muss der Übergang von Brust- zu Kopfstimme möglichst glatt gestaltet werden. Wer heute als Mann mit hoher Stimme singt, hat also noch alles in der Hose. An die Spitzentöne eines Kastraten kommt man nicht ganz heran – aber der Klang kann auch so sehr beeindruckend sein.

Text: Janna Heider, Stand: 23.09.2019

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