Jordi Savall

Der Schatz der Erfahrung

Der Musiker Jordi Savall überwindet in seiner Kunst kulturelle Grenzen und mehrere Jahrhunderte.

Irgendwo dürfte Jordi Savall eine Garage besitzen, vielleicht in Bellaterra, jenem Vorort von Barcelona, der auch die Heimat seines vor mehr als zwanzig Jahren gegründeten Labels Alia Vox ist. Und in dieser Garage, zwischen Regalmetern voll seiner Aufnahmen, Preise und Auszeichnungen, steht eine Zeitmaschine – es muss einfach so sein. Ein silbernes Gefährt mit Fluxkompensator wie aus »Zurück in die Zukunft«, das würde hervorragend passen. Allerdings nicht verbeult und abgewrackt wie das Modell am Ende der Filmreihe von Robert Zemeckis, sondern elegant und form-vollendet, sowie Jordi Savall selbst. Seit fünf Jahrzehnten prägt der Katalane das internationale Musikleben.

Das klingt lang und für manche vielleicht sogar ein bisschen verstaubt. Doch ist dieser Gambist, Dirigent und Musikforscher keinesfalls aus der Zeit gefallen, nur weil er mühelos die Jahrhunderte überwindet. Savall benutzt seine mutmaßliche Zeitmaschine nicht, um staunend durch die Musikgeschichte zu reisen und wie ein Tourist fremd scheinende Kulturen von außen zu betrachten. Nein, er gräbt sich geradezu ein, taucht ab, ist immer für neue Entdeckungen bereit. Derart neugierig zu bleiben, sich einen solch unverstellten Blick zu bewahren, ist eine hohe Kunst, die außerordentliche Sensibilität und Feinnervigkeit voraussetzt. »Nehmen wir einmal an, ich wüsste nicht, dass ich am 1. August 1941 geboren wurde«, erklärte Savall einmal. »Es würde sich für mich nichts ändern, weil ich mein Fühlen, meine mentale Kapazität, mein physisches Potenzial nicht an Zahlen festmachen kann. Was sich sagen lässt: Man ist jung, solange man noch Visionen hat und Kreativität.«

Jordi Savall
Jordi Savall © Toni Peñarroya

Erfahrung und Entfaltung :Jordi Savall und das Gefühl für die Musik

Auf die richtige Perspektive kommt es also an. Beschäftigte man sich beispielsweise mit dem Opernkomponisten Claudio Monteverdi und dessen Neuentdeckung der Stimme um 1600, und könnte man dabei trotzdem Richard Wagners wortgewaltiges Musiktheater aus dem späten 19. Jahrhundert nicht vergessen: Dann nähme man doch eigentlich der Erfahrung bereits die Entfaltung vorweg.

»Wenn wir Musik hören, fühlen wir die gleichen Emotionen, die die Menschen schon vor 100 Jahren beim Hören hatten.« Dieser Satz, den Savall in unterschiedlichen Versionen schon häufig geäußert hat, wirkt auf den ersten Blick logisch und nicht weiter strittig. Klar: Der 2. Satz aus Beethovens »Eroica« erinnert so sehr an einen Trauermarsch, dass die Musik schmerzvolle, traurige Gefühle hervorruft. Aber was wäre, wenn wir zum ersten Mal in unserem Leben einen Trauermarsch hörten? Würden wir auch dann zwangsläufig traurig werden? Oder würden wir diese Klänge womöglich als Schlaflied verstehen?

Man sucht sich automatisch Bezugspunkte in bereits Gehörtem und Erlebtem. Der Erfahrungshorizont wächst im Laufe eines Lebens immer weiter und gehorcht meist keiner einheitlichen Richtung. Jordi Savall dagegen überlässt seinen Erfahrungshorizont nicht dem Zufall, sondern hütet ihn wie einen Schatz: Er wählt die Richtung, aus der er sich den Werken nähert, und lässt sich dann von der Musik selbst führen.

 

»Musik ist eine Sprache, die nicht vom Intellekt geprägt ist – sie kommt durchs Fühlen. Nur wenn man etwas fühlt, kann man die Musik gut spielen.«

Jordi Savall

 

Auf sein Gefühl konnte sich Jordi Savall in seiner Musikerlaufbahn immer verlassen. So wechselte der ausgebildete Cellist früh auf sein erklärtes Lieblingsinstrument, die Viola da gamba, und er erkannte schon als Student, dass sein erstes Zuhause die Alte Musik sein würde. Gemeinsam mit seiner Frau, der 2011 verstorbenen Sopranistin Montserrat Figueras, gründete er 1974 mit Hespèrion XXI ein erstes eigenes Ensemble, das sich ganz auf die frühe Musik der iberischen Halbinsel konzentrierte. Eigens für die Interpretation mittelalterlicher geistlicher Musik riefen die beiden 1987 die Capella Reial de Catalunya ins Leben. Und kurz darauf mit Le Concert des Nations auch noch ein Kammerorchester, das auf Originalinstrumenten ein Repertoire vom Barock bis zur Romantik spielt.

EINE FRAGE DER RICHTUNG :A QUESTION OF THE DIRECTION

Mit eben diesem Ensemble, Le Concert des Nations, hätte Savall bereits 2020 seinen Blick auf Beethovens Sinfonien in der Laeiszhalle präsentieren wollen. Und noch bevor die Pandemie diesem Projekt einen vorläufigen Strich durch die Rechnung machte, erklärte er: »Meine Herangehensweise wird anders sein, weil ich von der Musik Bachs oder Rameaus her zu Beethoven komme und nicht wie viele andere Dirigenten aus der entgegengesetzten Richtung: von Brahms oder Mahler. Aus dieser Perspektive könnte man ja leicht denken, Beethoven gehöre zum gleichen spätromantischen Stil. Aber das stimmt nicht.«

Da wir nun aber unser Beethoven-Bild – stieseliger Wuschelkopf mit Hang zu inhaltlich stark aufgeladener Klangsprache – vor allem der Romantik zu verdanken haben, dürfen wir uns nicht wundern, wenn uns Savall nun, da diese Konzerte nachgeholt werden, mit seiner Interpretation aus den Socken hauen könnte. »Es gibt in diesen Sinfonien einen unglaublichen Reichtum an Details, die davon erzählen, was von der Alten Musik bei Beethoven noch anzutreffen ist: das inegale Spiel etwa oder eine differenzierte Artikulation, wie sie sich nur auf Darmsaiten gut verwirklichen lässt.«

Dieses erwähnte Prinzip der Notes inégales stammt aus dem Barock. Dabei werden eigentlich gleichwertige Noten nicht in gleicher Länge, sondern so unterschiedlich gespielt, dass ein tänzerischer, swingender Eindruck entsteht – für die Musikerinnen und Musiker von Le Concert des Nations eine Selbstverständlichkeit, wie auch die im Ensemble obligaten Darmsaiten, die einen wunderbar warmen und differenzierten Klang haben, aber so wartungsintensiv und anfällig sind, dass sie auf modernen Instrumenten nicht mehr zum Einsatz kommen.

Le Concert des Nations und Jordi Savall
Le Concert des Nations und Jordi Savall in der Laeiszhalle (Oktober 2021) © Daniel Dittus

All dieses Wissen kann man nur haben und vor allem optimal einsetzen, wenn man Beethovens Musik aus einer bestimmten Perspektive heraus betrachtet – von ihrer Entstehungszeit her. »Dann sieht man auch, was bei Beethoven neu ist«, erklärt Savall: »Die Benutzung von Bogenstrichen und eine zuvor unübliche Artikulation mit Akzenten, heftigen Kontrasten, plötzlichen Dynamikwechseln.« Die umstrittenen Metronom-Angaben, die von Beethoven selbst stammen sollen – Savall hält sich dran und findet sie keineswegs viel zu schnell.

Und noch einen wichtigen Punkt betont Savall: »Haydn komponierte 107 Sinfonien, Mozart 41, Beethoven nur neun – jede davon eine Revolution, ein Neustart. Und er schrieb nicht für eine Elite wie Haydn oder Mozart, er schrieb für die Menschen. Beethoven versuchte in seiner Musik eine sehr direkte Sprache, und wenn man wie ich und meine Musiker vom Barock kommt, ist jeder Takt, jede Phrase überraschend.«

ALLE WINKEL DER WELT :Jordi Savall als weltoffener Musiker

Die Neubeschäftigung mit Bekanntem prägt Savalls Arbeit ebenso sehr wie die unvoreingenommene Auseinandersetzung mit Unbekanntem. Und stets nimmt er die Menschen von heute in den Blick, wenn er in der Vergangenheit gräbt. Kein musikalischer Winkel dieser Welt scheint ihm dabei zu fern zu sein: Er beschäftigte sich mit der Musik von Wüstenbewohnern aus Afrika und Asien, erforschte Klangtraditionen von südamerikanischen indigenen Völkern und brachte sie zusammen mit lokalen Instrumentalisten und seinen eigenen Ensembles auf die Bühne.

2016 bewegten ihn die immensen Flüchtlingsströme, er besuchte Lager in Calais und Thessaloniki und fand: »Was mit den Flüchtlingen in Europa passiert, ist skandalös. Das geht gegen alles, was Europa in solchen Hilfefällen eigentlich leisten müsste.« Mit seinem Ensemble Hespèrion XXI, in dem mittlerweile viele Mitglieder aus Syrien, Griechenland, Marokko und der Türkei stammen, organisierte er Hilfskonzerte mit südeuropäischer Musik aus dem 14. Jahrhundert, die deutliche Gemeinsamkeiten mit der Musik aus den orientalischen Herkunftsländern der Flüchtlinge aufweist.

Jordi Savall
Jordi Savall © David Ignaszewski

ALLE MORGEN DER WELT :Ein Film über Musik

Seinen größten Erfolg vor breitem Publikum feierte Jordi Savall vor genau dreißig Jahren im Kino: mit dem Film »Die siebente Saite« (»Tous les matins du monde«) des Regisseurs Alain Corneau. Eigentlich hatte Savall keinerlei Erfahrungen mit Filmproduktionen, doch er erkannte rasch, dass dieses Projekt nicht nur ein Musikfilm, sondern ein Film über Musik sein sollte. Es geht um die Geschichte des Gambisten Monsieur de Sainte-Colombe aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, der als Witwer zurückgezogen und verbittert auf dem Land nahe Paris lebt und von seinem aufstrebenden, ihm ganz und gar gegensätzlichen Schüler Marin Marais in seinem festgefahrenen Weltbild erschüttert wird.

Savall wählte für diesen Film Werke von François Couperin, Jean-Baptiste Lully sowie natürlich von den beiden Protagonisten aus – und das mit einem solchen Fingerspitzengefühl und intimen Verständnis, dass wohl schon damals seine ominöse Zeit-maschine im Spiel gewesen sein muss. Wie auch immer: Wenn er dieses berühmte Programm nun aus der Garage holt, um es pünktlich zum fünfjährigen Jubiläum der Elbphilharmonie nach Hamburg zu bringen, dann können wir sicher sein, dass es wieder klingen wird, als entstünde diese Musik im Augenblick zum ersten Mal.


Text: Renske Steen, Stand: 29.11.2021

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