Raphaël Pichon

Der Dirigent Raphaël Pichon im Interview

»Bachs Musik spricht zu uns wie zu einem Freund«. Wer war Bach? Was hat ihn inspiriert? Ein Gespräch mit dem französischen Dirigenten.

Wer war Johann Sebastian Bach? Was hat ihn inspiriert, wer waren seine Vorbilder? Seit vielen Jahren erforscht der französische Dirigent Raphaël Pichon die Spuren des Altmeisters. Kein Wunder also, dass die Presse ihn jüngst als den »besten Bach-Dirigenten der Gegenwart« bezeichnete. Gemeinsam mit seinem Ensemble Pygmalion präsentiert der junge Pultstar nun sein umfangreiches Projekt »Wege zu Bach«. In mehreren Konzerten erkunden die Musiker:innen Bachs Vorbilder, seine Inspiration und sein musikalisches Umfeld.

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Worum geht es in dem Projekt »Wege zu Bach«?

Raphaël Pichon: »Wege zu Bach« ist eine Art Dokumentation, die innerhalb von 15 Jahren entstanden ist, in denen wir Bachs Werk immer wieder aus neuen Perspektiven erlebt und erforscht haben. Das Projekt soll seine Musik zelebrieren und aufzeigen, in welchem Kontext dieser geniale Komponist stand. Dabei geht es nicht nur darum, den künstlerischen Reichtum der Bach-Dynastie zu präsentieren, sondern diesen auch innerhalb der Epoche zu sehen – die gemischten Einflüsse der italienischen und deutschen Musikgeschichte, Bachs Lehrer und Vorbilder.

Wie lief die Recherche ab?

Die Forschungsarbeit hat viele Jahre gedauert! Gemeinsam mit dem Ensemble Pygmalion habe ich viele Reisen unternommen – hauptsächlich nach Deutschland und an Orte, an denen Bach selbst aufgetreten ist. Das waren oft ganz besondere Erlebnisse. Wir haben natürlich in Leipzig gespielt und Köthen und Eisenach besucht.

Gab es für sie überraschende Entdeckungen?

Das 17. Jahrhundert war eine echte Hoch-Zeit der Musikgeschichte. Da viele der Komponisten dieser Zeit heute nicht besonders populär sind, kann man noch viele überraschende Entdeckungen machen. Denn in diesem Repertoire verstecken sich ganz bedeutende und faszinierende Werke. Namen wie Michael Praetorius oder Georg Böhm sollten es eigentlich viel häufiger auf die Programme der aktuellen Konzertwelt schaffen!

Raphaël Pichon Raphaël Pichon © Fred Mortagne
Ensemble Pygmalion Ensemble Pygmalion © Fred Mortagne
Ensemble Pygmalion Ensemble Pygmalion © Fred Mortagne

Wie viel von seinen Vorfahren und seinem Umfeld steckt in dem, was wir von Johann Sebastian Bach kennen?

Bach hatte einen ausgeprägten Sinn für Traditionen. Zeit seines Lebens beschäftigte er sich mit der Überlieferung von Werken und widmete sich – anders als sein Kollege Händel – zunächst weniger der eigenen Karriere. Er besaß eine umfangreiche Notensammlung. Die Partituren ­darin waren oft bearbeitet. Man kann sich also unschwer vorstellen, dass Bach sich viel mit der Musik seiner Vorfahren auseinandergesetzt hat. Unter anderem besaß er auch Werke von seinem Onkel Johann Christoph, den er sehr bewundert und seinen »geliebten Onkel« nannte. Bachs außergewöhnliche Sammlung sollte im Verlauf der Jahrhunderte übrigens noch eine besondere Geschichte erleben: Man glaubte nämlich lange, sie sei während des Zweiten Weltkriegs in Berlin verbrannt. Mitte der 1980er Jahre tauchte die Sammlung jedoch plötzlich in Kyjiw wieder auf, wohin sie offenbar von Sowjets gebracht worden war.

Was ist das Besondere an Bachs Musik?

In Bachs Musik herrscht ein einzigartiges Gleichgewicht zwischen Herz und Verstand. Es ist eine Musik, die einerseits intellektuell extrem komplex ist, aber andererseits eben auch etwas ganz Direktes und unmittelbar Berührendes hat. Auch wer dieser Musik vorher noch nie begegnet ist, kann sehr schnell eine intime Beziehung zu ihr aufbauen und zutiefst von ihr berührt werden. Das ist das Außergewöhnliche: Es ist eine Musik, die zu uns spricht wie zu einem Freund. Sie hat nichts Einfaches an sich, und doch ist sie uns nahe und vertraut. Das zeichnet sein großes Genie aus.

Raphaël Pichon und das Ensemble Pygmalion mit J.S. Bach: Lobet den Herrn, alle Heiden BWV 230

Wie stellen Sie sich Bach eigentlich als Person vor?

Ich stelle mir jemanden vor, der eine schwierige Kindheit hatte, weil er seine Eltern schon früh verloren hat. In meiner Vorstellung ist er ein Mensch, der fachlich und moralisch sehr hohe Ansprüche an sich und andere hatte. Ich glaube, er war einerseits sehr streng, aber andererseits auch wahnsinnig gesellig und humorvoll. Er muss eine faszinierende und vielseitige Persönlichkeit gewesen sein.

 

Interview: Julika von Werder, Stand: 05.12.2022

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