Wayne Shorter

Waynes Welt

Der Saxofonist Wayne Shorter hat mit seiner wunderbar eigentümlichen Musik die Erde um einen ganzen Planeten reicher gemacht.

Text: Tom R. Schulz, 01.08.2023

Ein gutes Gespräch lebt von der Abschweifung, so wie die gute Reise von kleinen, spontanen Umwegen. Was aber, wenn die Abschweifung selbst zum Formprinzip wird, der Umweg zum einzig gangbaren? Wer als Journalist je das inspirierende Irritationsvergnügen hatte, ein Interview mit dem Anfang dieses Jahres im Alter von 89 Jahren verstorbenen Saxofonisten Wayne Shorter zu führen, der wird dessen faszinierendes Umgehen jedes linearen Gesprächsverlaufs womöglich besser in Erinnerung behalten haben als das, was Shorter im Einzelnen tatsächlich gesagt hat. Dem direkten Frage-­Antwort-­Spiel des Künstlerinterviews, für die Vielgefragten dieser Welt ja oft genug tatsächlich öde Routine, verweigerte er sich ebenso liebenswürdig wie eigensinnig. Inzwischen kann man in Videos im Netz verfolgen, wie ehrfürchtige Fragesteller ihre Spickzettel sinken lassen und sich wortlos mitnehmen lassen in Waynes Welt, in der die kürzeste Verbindung zwischen zwei Gedankenpunkten verlässlich über ein Knäuel von Assoziationen und Nebengedanken läuft, denen nachzugehen seinem Dasein im Hier und Jetzt immer viel mehr zu entsprechen schien, als dem Interviewer eine einfache, klare, womöglich schon oft zuvor formulierte Antwort zu geben.

Waynes Welt – dass diese eine ganz eigene war, hatte schon Miles Davis zu schätzen gewusst, in dessen Quintett Wayne Shorter als Nachfolger John Coltranes am Tenorsaxofon in den Sechzigerjahren zu Weltruhm gelangte. Die rätselhafte Schönheit von Shorters Gedankenflügen beim Reden, dies bedächtig Sprunghafte, war nichts anderes als das sprachliche Äquivalent der wunderbar eigentümlichen Verlaufskurven seiner Melodien, die er mit ebenso reichhaltigen wie geheimnisvollen Akkordfortschreitungen und allerlei rhythmischen Finessen unterlegte. Nach eher konventionellen Hardbop­Anfängen fand der 1933 in Newark, New Jersey, geborene Musiker schon bald zu einer Klangrede, die, wenn überhaupt einem Prinzip, dann dem lyrischer Unvorhersehbarkeit folgt.

Wayne Shorter
Wayne Shorter mit Art Blakey and the Jazz Messengers 1959 im Concertgebouw Amsterdam © Herbert Behrens Anefo

Secondhand Zauberstab

Dabei begann Shorter, aus bescheidenen Verhältnissen stammend und aufgewachsen während der Großen Depression, sich erst mit 15 Jahren ernsthaft für Musik zu interessieren. Um dem augenscheinlich begabten Jungen eine Klarinette zu kaufen, legten die Großmutter und die Mutter ihr Erspartes zusammen. Für 90 Dollar erwarben sie ein gebrauchtes Instrument, das der Musikalienhändler aus den Einzelteilen mehrerer alter Klarinetten zusammengesetzt hatte. Für Wayne besaß diese Klarinette dennoch die Eigenschaften eines Zauberstabs, mit dessen Hilfe er die Welt da draußen verwandeln konnte – in Waynes Welt.

Mit 15 hatte er vom dritten Rang des örtlichen Theaters aus den Tenorsaxofonisten Lester Young erstmals im Konzert gehört – ein Erweckungserlebnis, das sich ihm derart ins Gedächtnis eingeprägte, dass er noch Jahrzehnte später sagen konnte, was Lester Young bei dem Auftritt angehabt hatte. Drei Jahre darauf spielte Shorter nicht nur selbst Tenor, sondern schrieb erstmals für eine Orchesterbesetzung. Bald wagte er sich auch an eine Oper, zu der er das Libretto selbst verfasst hatte. Über die Ouvertüre und den ersten Akt kam er indes nicht hinaus. Als er Jahre später entdecken musste, dass das gewählte Sujet dem der »West Side Story«, die 1957 herauskam, frappant ähnelte, gab er seinen Plan auf.

Insofern schloss sich für Shorter ein sehr weit gezogener Kreis, als er in den letzten Lebensjahren seine schöpferische Energie erneut auf ein Opernprojekt lenkte. »… (Iphigenia)« lautet der Titel des Werks, für das die stupend versierte Bassistin und Sängerin Esperanza Spalding das Libretto schrieb. Sie war auch eine der Performerinnen bei den ersten Aufführungen der ehrgeizigen Produktion in den USA Ende 2021. Von der »Washington Post« als »nicht nur typografisch abenteuerliche neue Oper« beschrieben, feierte »… (Iphigenia)« im Dekor des Architekten Frank Gehry immerhin einen Achtungserfolg. Shorter selbst trat als Instrumentalist nicht in Erscheinung, wohl aber die drei übrigen Mitglieder seines seit zwanzig Jahren bestehenden, weltweit gefeierten Quartetts: der Pianist Danilo Perez, der Bassist John Patitucci und der Schlagzeuger Brian Blade. Und natürlich ein amtliches Opernorchester.

Wayne Shorter
Wayne Shorter © Robert Ascroft

ALS WÜSSTEST DU NICHT WIE …

Unter all den Musikern, die im Orbit von Miles Davis in den Sechzigern und Siebzigern ihre Persönlichkeit fanden und selbst zu Stars wurden, war Wayne Shorter bis ins hohe Alter der wandelbarste und produktivste. Dabei blieben die Erfahrungen mit Miles für ihn Referenzpunkt bis zuletzt. Manche Anweisung, die der magische Trompeter ihm mit seiner rau­heiseren Stimme auf der Bühne so zugeraunt hatte, besitzt ja auch durchaus die Qualität eines Zen­Koans: »Spiel keine Musik, die wie Musik klingt.« Oder: »Spiel dein Horn so, als wüsstest du nicht, wie das geht.«

Zum singulären Rang der gut vier Jahre lang bestehenden Besetzung des Miles Davis Quintets mit Wayne Shorter, Herbie Hancock (Klavier), Ron Carter (Bass) und Tony Williams (Schlagzeug) hatte Shorter wesentlich beigetragen. Als Komponist lieferte er so bemerkenswerte Stücke wie »E.S.P.«, »Nefertiti«, »Iris« oder »Prince of Darkness«, die sich formal und vom musikalischen Gehalt her deutlich vom Hardbop abhoben, der zuvor das Repertoire der Band bestimmt hatte. Auch als Solist neben Miles gewann er deutlich an Statur. Live­-Aufnahmen vom Dezember 1965 aus dem Jazzclub Plugged Nickel in Chicago legen Zeugnis davon ab, in welchem Maß Wayne Shorter mit seinem Improvisationsfluss, der kontinuierlich frisches Wasser führt, zur Inspirationsquelle der ganzen Band werden konnte. Er habe sich mit seinem Instrument oft wie ein Cello gefühlt, wie eine Viola, sagte Shorter einmal.

Der junge Wayne Shorter mit dem Miles Davis Quintet und dem Stück »Agitation«, 1967 in Schweden. (Klavier: Herbie Hancock, Bass: Ron Carter, Schlagzeug: Tony Williams)

Zur selben Zeit erschienen auf dem Label Blue Note zudem in rascher Folge Solo-­Alben, denen die Notenliteratur einige der schönsten und anspruchsvollsten Blätter im großen Buch der Jazz­-Standards verdankt: »Speak No Evil«, »Infant Eyes«, »Footprints«, »Adam’s Apple« oder »Juju«. Die Schöpfung, Tod und Teufel sowie die ewige Frage nach dem Woher und dem Wohin prägen das weniger beachtete Album »The All Seeing Eye« (1966), ein Werk voller visionärer Kraft und Fantasie. Es klingt heute genauso aktuell und relevant wie vor bald sechzig Jahren.

IMMER HÖHERE HÖHEN

Als Miles Davis 1968 mit erweiterten Besetzungen und elektrischen Instrumenten zu experimentieren begann, ermunterte er Wayne Shorter, zusätzlich zum Tenor auch Sopransaxofon zu spielen. Von da an wurde das höher klingende Horn mit dem geraden Rohr in seinem Instrumentarium ebenso wichtig wie das Tenor; welches von beiden er im Konzert benutzte, folgte dabei mancher unergründlichen Laune. Da legte er nach einem Solo das Tenor in den Ständer, griff sich das Sopran, blies fünf Töne darauf, schüttelte den Kopf und nahm wieder das Tenor, um darauf weiterzuspielen – oder auch umgekehrt. Zufriedenheit, Selbstgewissheit, gar Eitelkeit auf der Bühne blieben diesem Großmeister der Improvisation zeitlebens fremd. In Waynes stark vom Buddhismus geprägter Welt war für ekstatische Selbstbegeisterung kein Platz; bis zu seinen letzten Auftritten wirkte er auf der Bühne introvertiert, scheu, manchmal beinah unbeholfen.

Musikalisch aber zählte für ihn ebenfalls bis zuletzt nichts mehr als das Wagnis des Augenblicks. Im verschworenen Kollektiv mit seinem Quartett folgte er einem innerlich empfundenen Auftrag: »Bevor wir auf die Bühne gehen, fragen wir uns manchmal gegenseitig: Sind wir bereit, unsere Mission fortzusetzen?« Kernpunkte der Mission: Freiheit, Zuhören, den anderen Raum lassen, in neue Welten vordringen. Und dann setzten die vier zu mächtigen musikalischen Expeditionen ins Unbekannte an, bei denen Shorter auf dem Sopran in immer höhere Höhen vorzustoßen schien. In solchen Momenten verwandelte der passionierte Liebhaber von Fantasy, von Geschichte, von Comics, von Zeichentrick­ und anderen Filmen den Zauberstab von einst, die Klarinette seiner Jugendzeit, nochmal in ein neues, mythenschweres und scheinbar unbesiegbar machendes Werkzeug: in Excalibur, das Schwert von König Artus. Derlei gewaltfreie Allmachtsfantasien teilte Shorter im Laufe manches als Gespräch getarnten öffentlichen Monologs bereitwillig mit seinen andächtig lauschenden Zuhörern.

Wayne Shorter Quartet 2012
Wayne Shorter Quartet mit John Patitucci, 2012 NSJ Rotterdam © Dirk Neven

IN DIE HEXENKÜCHE UND RETOUR

Die größten kommerziellen Erfolge genoss Wayne Shorter natürlich mit Weather Report, der von ihm und dem Pianisten Joe Zawinul überaus glänzend geführten Hexenküche des Fusion Jazz der Siebziger. Zwei weitere Miles­Davis­Alumni lagen damals ebenfalls weit vorn in der Publikumsgunst: Chick Corea mit Return To Forever und John McLaughlin mit dem Mahavishnu Orchestra. Weather Report aber hatte zwei gleichermaßen kreative wie antagonistische Köpfe, einen genialen Boxer und einen nicht minder genialen Mönch. Nachzuhören, wie sich diese so ungleichen Glimmer Twins Zawinul und Shorter und ihre oft kongenialen Partner an Bass (Jaco Pastorius!), Schlagzeug und Percussion mit dem Spirit schrankenloser Improvisation über komplizierteste Harmonien, Rhythmen und Melodien hermachten, ist auch heute noch ein Fest.

Shorter aber, der sich kurz vor seinem Tod von einem Besucher in Los Angeles in einem Raum filmen ließ, in dem auf einem Sideboard neben allerlei Fantasy­Figuren dicht an dicht die begehrten kleinen Grammy­Grammophone und sonstige Skulptur gewordene Nobel­Awards stehen, fand im späten Lebensrückblick Weather Report und auch die eigene vorübergehende Hinwendung zu elektronischem Instrumentarium eher nur noch »gut und schön«. Mit seinem so beständigen letzten Quartett fand Shorter sich viele Lebensumdrehungen später und auf entsprechend höherer Ebene auf jenem Weg wieder, den er nach dem Ende des Miles Davis Quintets 1968 verlassen hatte: elektrisierende Kammermusik ohne Strom, Kunst des Augenblicks, frei von jedem technischen Bombast, nackt, riskant, explosiv.

Wayne Shorter hat ein musikalisches Lebenswerk hinterlassen, in dem man nach Ausschuss wirklich lange suchen muss. Seine Klangreden und auch sein oft verrätselt scheinendes gesprochenes Wort haben die Erde um einen ganzen Planeten reicher gemacht. Waynes Welt gibt dem Dasein einen guten und sehr schönen Grund. Auch deshalb, weil für ihn die Musik nie wichtiger war als das, was alle gewöhnlichen Sterblichen tun: Ganz normal leben.

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