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Stichwort »Live« – die Playlist

Die Playlist rund ums Thema »Live« – aus dem Musiklexikon der Elbphilharmonie.

Berliner Philharmoniker & Wilhelm Furtwängler (1939–45)

Streaming-Konzerte sind keine Erfindung der Corona-Zeit. Zentrale Bedeutung erfuhren sie schon während des schlimmsten Lockdowns des 20. Jahrhunderts, dem Zweiten Weltkrieg – damals in Form von Radioübertragungen. Die Berliner Philharmoniker etwa spielten während der Kriegsjahre ungerührt weiter Brahms und Beethoven, bis zum 23. Januar 1945, vier Tage vor der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Als Chefdirigent am Pult (und auf Hitlers Gottbegnadeten-Liste ganz oben) stand Wilhelm Furtwängler, dessen in Tempo und Dynamik extreme Interpretationen die Zeichen der Zeit zu spiegeln scheinen.

Die Mitschnitte landeten zunächst in sowjetischen Archiven und kehrten erst 1990 zurück, um aufgearbeitet zu werden. Und so kann man heute mit einer Mischung aus Faszination und Grausen hören, wie Walter Gieseking Beethovens Fünftes Klavierkonzert spielt, während im Hintergrund die Flugabwehrkanonen dröhnen.

Dies ist ein Artikel aus dem Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 03/2020), das drei Mal pro Jahr erscheint.

Sam Cooke – Live at the Harlem Square Club (1963)

»Don’t know much about history« trällerte Sam Cooke und avancierte mit seiner samtweichen Stimme zum ersten Superstar des Soul, Wegbereiter für Aretha Franklin, James Brown und Stevie Wonder. Dabei war die Textzeile reine Koketterie: Seine »black history« kannte er nur zu gut, war befreundet mit dem Bürgerrechtler Malcolm X und dem Boxer Cassius Clay, mit denen er 1964 in Miami Clays ersten Weltmeistertitel feierte. Die aufgeheizte Stimmung jener Zeit klingt auch aus seinem Gig im dortigen Harlem Square Club ein Jahr zuvor: Vor afroamerikanischem Publikum lässt Cooke hemmungslos die Sau raus. Seinem Produzenten war das so peinlich, dass er den Mitschnitt 22 Jahre lang zurückhielt und als Live-Album zunächst das slicke »Sam Cooke at the Copa« herausbrachte.

Johnny Cash At Folsom Prison (1968)

»Hello, I’m Johnny Cash.« Als der Countrysänger – wie üblich im schwarzen Anzug – am 13. Januar 1968 auf die Bühne im Speisesaal des Folsom State Prison tritt, schließen sich gleich mehrere Kreise. Zehn Jahre zuvor hatte er mit dem »Folsom Prison Blues« einen seiner ersten Hits gelandet, inspiriert von einem Film über den angeblich härtesten Knast der USA. Immer wieder war er in der Folge auch vor Häftlingen aufgetreten, bevor seine Drogensucht ihn selbst an den Rand der Legalität und seine Karriere ins Stolpern brachte. Mit dem ersten hinter Gefängnismauern aufgenommenen Live-Album meldet er sich nun eindrucksvoll zurück.

Obwohl sicherheitshalber zwei Sessions angesetzt sind, können fast alle Tracks am Stück übernommen werden. Es scheint, als bestehe eine besondere Verbindung zwischen dem Geläuterten auf der Bühne und den zu Läuternden im Publikum, die ihn als einen der ihren betrachten. Das merkt auch die Plattenfirma Columbia, die Cash fortan als Outlaw inszeniert und im Folgejahr mit »At San Quentin« gleich noch eine Gefängnis-Platte nachlegt. Eine Haftstrafe allerdings hat der »Man in Black« nie absitzen müssen.

Der Auftritt in Folsom Prison wurde zwar nicht gefilmt. Nacherleben kann man ihn aber im oscarprämierten Film »Walk the Line«, in dem Joaquin Phoenix in die Rolle von Johnny Cash schlüpft.

Barenboim, Perlman, Zukerman, du Pré und Mehta: »Forellenquintett« (1969)

Seit weiland Haydn und Mozart Streichquartett spielten, dürfte es kein solches All-Star-Ensemble gegeben haben: Daniel Barenboim (Klavier), Itzhak Perlman (Violine), Pinchas Zukerman (Viola), Jacqueline du Pré (Cello) und Zubin Mehta (Kontrabass) trafen sich am 30. August 1969, um in der gerade eröffneten Queen Elizabeth Hall Schuberts »Forellenquintett« aufzuführen.

Bis auf den hauptberuflichen Dirigenten Mehta, mit 33 Jahren der Älteste, standen alle noch am Anfang ihrer glanzvollen Karrieren. Ihre enge Freundschaft und geballte Spielfreude spürt man bis heute – dank des legendären Konzertfilms von Christopher Nupen, der auch wunderbare Backstage-Szenen einfing. Zum Beispiel, wie die Musiker Instrumente tauschen, du Pré die Geige zwischen die Knie klemmt und Perlman auf ihrem Cello herumschabt.

Spotify-Playlist

Elbphilharmonie Magazin | Live!

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Keith Jarrett: The Köln Concert (1975)

Es ist das meistverkaufte Jazz-Soloalbum – und vermutlich auch das am schlechtesten organisierte Konzert aller Zeiten. Als der Keith Jarrett an jenem 24. Januar 1975 in der Kölner Oper ankommt, passt gar nichts: Statt des vereinbarten Bösendorfer Imperial hat das Personal einen schrottigen Stutzflügel bereitgestellt, ungestimmt, mit gerissenen Saiten, klemmenden Tasten und defekten Pedalen. Ohnehin ist der amerikanische Pianist gerädert, weil er sich das Flugticket aus Zürich, der vorigen Tournee-Station, hat ausbezahlen lassen und mit einem klapprigen Renault R8 nach Köln gejuckelt ist. Sogar der Ober im Restaurant vor dem Late-Night-Gig (einen anderen Slot hat die Oper nicht freigegeben) vergisst ihn.

»It’s okay, I play. But never forget: Just for you!«

Keith Jarrett an Vera Brandes

Nur dank des Flehens der erst 18-jährigen Konzertveranstalterin Vera Brandes, im Hauptberuf Schülerin, geht er auf die Bühne – und liefert in doppelter Hinsicht eine Sternstunde der Improvisation. Und eigentlich nur für interne Doku-Zwecke starten die ECM-Tontechniker die Aufnahme, die sich als absolute Cashcow des Labels erweisen wird. Doch wie sehr die widrigen äußeren Umstände den Jazzer beflügeln, zeigt sich schon in der ersten Improvisation: Als Basis verwendet Jarrett zur allgemeinen Erheiterung den Pausengong des Opernhauses – unbewusst, wie er später zugibt.

Keith Jarrett über das Kölner Konzert

Die Geschichte des Konzertes erzählt Vera Brandes in einem Interview.

Rafael Kubelík / Tschechische Philharmonie: »Má vlast« (1990)

42 Jahre sind eine lange Zeit für einen Menschen. 42 Jahre lang lange setzte der berühmte tschechische Dirigent Rafael Kubelík keinen Fuß mehr auf heimatlichen Boden, seit er das Land 1948 aus Protest gegen die Machtübernahme der Kommunisten verlassen hatte. Stattdessen etablierte er sich in Chicago, London und München als einer der gefragtesten Dirigenten seiner Zeit. Erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der »Samtenen Revolution« in der Tschechoslowakei kehrte er – mittlerweile 75 Jahre alt – auf Einladung des neuen Staatspräsidenten Václav Havel zurück ans Pult seines alten Orchesters. Zum Auftakt des Festivals »Prager Frühling« dirigierte er an Bedřich Smetanas Todestag dessen Zyklus »Má vlast« (Mein Vaterland) inklusive der bekannten »Moldau«. Und nicht wenige Zuhörer und Musiker mussten sich eine Träne aus dem Auge wischen.

Eric Clapton: Unplugged (1992)

Welches nun das erfolgreichste Live-Album aller Zeiten ist, darüber lässt sich mangels einer systematischen Erfassung weltweiter Verkaufszahlen keine verlässliche Aussage treffen. Es scheint, als gebühre die Ehre Eric Clapton, aufgenommen in der Reihe MTV Unplugged. Der Musiksender lud ab 1989 Popstars zu Akustik-Gigs, die schnell große Resonanz fanden. Elton John, Bob Dylan, Paul McCartney, Mariah Carey, Nirvana, Aerosmith und viele mehr ließen sich auf das Wagnis (fast) unverstärkter Konzerte ein. »Slowhand« Claptons Gitarren-Qualitäten kamen in diesem Setting und in der Mischung aus eigenen Hits wie »Tears in Heaven« und alten Blues-Klassikern besonders gut zur Geltung; die Platte ging bis heute mehr als 25 Millionen mal über den Tresen.

Text: Clemens Matuschek, Stand: 14.8.2020

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