Sir András Schiff in der Elbphilharmonie, 2022

Sir András Schiff im Portrait

Meister der Spielfreude: Unter den Händen des gefeierten Pianisten Sir András Schiff scheint die Musik aus sich selbst zu schöpfen.

Text: Martin Meyer, 23. 11. 2023

 

Wenige Musiker unserer Zeit verkörpern so entschieden und zugleich unangestrengt die Kunst des Interpretierens wie der ungarische Pianist András Schiff. Wenn Schiff spielt, spielt das Werk selbst – so stellte früh schon der große Komponist György Kurtág fest, der Schiff einst in Budapest auf den Wegen einer Laufbahn begleitete, die sich stets organisch, ohne Brüche oder Kurswechsel entwickelte.

Gleichwohl ist dieses Zwiegespräch zwischen dem Komponisten und seinem Interpreten alles andere als selbstverständlich. Es bedarf des Studiums der Partitur, es bedarf der genauen, mitunter peniblen Analyse dessen, was den Charakter und den Stil, die Botschaft nach außen und das Bekenntnis nach innen definiert. Wenn Schiff diese Kunst seit Jahrzehnten souverän beherrscht und laufend noch verfeinert, ist sie das Ergebnis der Reflexion ebenso wie der Ausdruck einer bezwingenden Spielfreude. Schiff liebt seine Instrumente, sie sind die Boten der Versinnlichung dessen, was zunächst als reiner Text vorliegt. Nicht von ungefähr hat ein anderer Meister unter den Pianisten, Alfred Brendel, diesen Transfer von der Idee zur klanglichen Wirklichkeit als ein »Wachküssen« bezeichnet.

Sir András Schiff als Portraitkünstler

Rund um seinen 70. Geburtstag kommt der Pianist in der Saison 2023/24 gleich mehrfach nach Hamburg. An seiner Seite: viele junge, von ihm geförderte Talente.

András Schiff
András Schiff © Lukas Beck

Der Menschenfreund :Sir András Schiff im Portrait

Früh hat sich Schiff, vor genau 70 Jahren in Budapest geboren und 1979 in den Westen emigriert, als glänzend schattierender Bach-Spieler etabliert. Es muss ein besonderer Moment gewesen sein, als er Glenn Gould in dessen Studio seine erste Aufnahme der »Goldberg-Variationen« zu Gehör bringen durfte und dafür den Segen eines Kollegen erhielt, dessen Monopol auf dieses Werk geradezu in Stein gemeißelt schien. Gould war mehr als zufrieden, wohl auch deshalb, weil der Jüngere selbstsicher auf die eigenen Fähigkeiten und Ausdruckskräfte vertraute.

Humanisierung des Bach’schen Kosmos – so könnte man es im Rückblick auf diesen immer eloquenten, doch ebenso maßvoll kombinierenden Stil formulieren. Bei Schiff ist zwar alles »da«, doch ohne Verhärtungen oder aggressive Spitzen. Ganz im Gegenteil ist eine Menschenfreundlichkeit zu vernehmen, die selbst in den schwärzesten Momenten der Verzweiflung, wie sie manche Präludien und Fugen des »Wohltemperierten Klaviers« zum Ausdruck bringen, das Herz des Gegenübers erreicht. Kommunikation wäre als Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung zu nehmen: Mitteilung.

Bach im Kosmos der Formen und Sprachen, zwischen Tanz und Erleuchtung, zwischen Spekulation und Ausgelassenheit, zwischen der Konstruktion und ihrer Sublimation, das waren die Parameter für die frühen Lehr- und Wanderjahre des András Schiff, die als Ferment aller weiteren Erkundungen dienten. Bald traten auch die Heroen der Wiener Klassik hinzu, Mozart und Haydn, die nicht nur in ihrer grundsätzlichen Eigenart, sondern in jedem einzelnen Stück ihr Wesen offenbarten.

Bei Mozart entdeckte Schiff den Gesang, die Kantilenen, den Schmelz, doch umgekehrt auch jene schwer zu definierende Trauer, die ihre Schatten über das nur scheinbar Idyllische legt. Haydn lehrte ihn das Gespräch, die Diktion, die Schärfung der Stimmen, wo viele Sonaten wie Streichquartette auftrumpfen, und natürlich immer wieder auch den Humor. Haydn als genialer, durch und durch unorthodoxer Humorist: Dies verbindet Brendel und Schiff, denen der Sinn nach Ähnlichem steht.

Sir András Schiff spielt Mozarts Sonate Nr. 17 in B-Dur KV 570

Der Geduldige

Schiff seinerseits ist der Physiognomie nach ein Künstler zwischen Humor, Vitalität und Jenseitsglauben. Das Jenseits macht sich da bemerkbar, wo wir einer Art von spielerisch bewegter Trance beiwohnen dürfen, die sowohl das Können wie das Wollen gänzlich hinter sich gelassen hat. Die Musik schöpft aus sich selbst. Wenn etwa im langsamen Satz des ersten Klavierkonzerts von Beethoven gegen das Ende hin ein gemächlicher und zugleich gewichtiger Walzer sich manifestieren darf, den fast alle anderen Interpreten überhören, spüren wir solche kompo­sitorische Öffnung, als hätte sie sich im Augenblick entdeckt.

»Dass Beethoven plötzlich dramatisch neu ist«

Überhaupt Beethoven. Schiff ließ Jahrzehnte ins Land gehen, bis er bereit war, dessen 32 Klaviersonaten aufzuführen und einzuspielen. Der Respekt vor diesem Monument war immens, die Vorbereitungen nahmen ein wichtiges Stück Lebenszeit in Anspruch. Das Ergebnis war stupend. Schiff durchwandert und durchdringt dieses ungeheure Corpus mit der Präsenz eines Gestalters, dem buchstäblich jede Note ihre Bedeutung und ihren Stellen­wert im Verlauf offenbaren soll.

Der kundige Hörer erhält den Eindruck, dass Beethoven plötzlich dramatisch neu ist, dass jede Sonate ihre Charakteristik beglaubigt, dass sich Anschlag und Tongebung, Rhythmus und Tempo und vor allem auch Phrasierung und Artikulation in den Dienst des je Beson­deren stellen. Dass Schiff beispielsweise das Zeitmaß im Kopfsatz der »Hammerklavier«-Sonate op. 106 wagnisreich so vorantreibt, wie es der Komponist sich ausgedacht hatte, ohne das Ergebnis noch mit eigenen Ohren über­prüfen zu können, sorgte 2004 in New Yorks Carnegie Hall, in der Zürcher Tonhalle und anderswo für Furore.

Sir András Schiff: Beethovens Klaviersonaten (Vol.VII)

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Sir András Schiff
Sir András Schiff Sir András Schiff © Nadia F. Romanini

Der Neugierige

Ein weiteres Attribut dieses Musikers ist die Neugier. Sie erstreckt sich mittlerweile auf ein riesiges Repertoire nicht nur der Klavier-, sondern auch der Kammer- und Orches­termusik. Alles, was nach Schablone und leerer Wiederho­lung riecht, ist zu verwerfen; alles, was vertraute oder überraschende Begegnungen unter vollem Einsatz ermöglicht, muss aufgenommen und weiterentwickelt werden.

Dazu passt, dass sich der Pianist Schiff seine Instrumente mit der allergrößten Sorgfalt aussucht. Das Werk stellt denjenigen Flügel, der seiner Befindlichkeit, eher noch: seiner Verletzlichkeit am besten gerecht wird. Manche Sonaten Beethovens, insbesondere die orchestral extraver­tierten, verlangen nach dem Steinway, während solche der weicheren, lyrischen Tonarten beim Bechstein oder beim Bösendorfer aufs Beste aufgehoben sind. Es war kein Zufall, dass Schiff einen Bechstein, der seinerzeit häufig von Wilhelm Backhaus gespielt worden war, in seinen Originalzustand versetzen ließ, woraus sich seither faszinierende Perspektiven in Klang und Atmosphäre ergeben.

Hinzu kommt eine Kollektion historischer Instru­mente, die ein fachkundiger Stimmer bei Leben und Laune hält. Neben dem Hammerflügel nutzt Schiff in jüngster Zeit auch ein Clavichord, das sich kongenial mit Bachs Inventionen und Sinfonien verschwistert, wovon auch eine schöne, bei ECM erschienene Einspielung Kunde gibt.
 

»In Schiffs neuen Bach-Aufnahmen verbinden sich künstlerische Wahrhaftigkeit und historische Wahrheit: ein großer Pianist spielt Bachs Musik auf dem Instrument, für das sie konzipiert wurde.«

BR Klassik

Der Intellektuelle

Dem Tasteninstrument ist die Natürlichkeit nicht in die Wiege gelegt. Jede Mechanik bildet eine Quelle des Widerstands, dessen Ausläufer die Interpretation vor enor­me Herausforderungen stellen. Als es Schiff gelang, Bachs »Goldberg-Variationen« auf dem modernen Konzertflügel abzubilden, ohne das rechte Pedal auch nur einmal zu berühren, war ein Höhepunkt intellektuell-manueller Freiheit erreicht. Bald übertrug der Interpret diesen schwerelos anmutenden Akt des Balancierens auf des Meisters gesamtes Œuvre, wovon dann auch andere Komponisten je nach Vorgabe und Sinngehalt profitierten.

So brachte ein denkwürdiger Abend bei der Münch­ner Carl Friedrich von Siemens Stiftung die »Goldberg-Variationen« einmal auch mit Beethovens Schwesterwerk, den »Diabelli-Variationen«, zusammen. Damit nicht genug. Im ersten Teil des Marathons erläuterte Schiff dem atemlos aufmerksamen Publikum die Geheimnisse und Scharnierstellen dieser Zyklen, nicht ohne auch Humor und Witz den Tribut zu entrichten, so dass die anschlie­ßende Aufführung – meiner Erinnerung nach ohne Pausen – doppelt eindringlich wirkte. Schiffs freundliches Lächeln verbarg, dass hier ein Pianist aus herkulisch anmutenden Kräften schöpfen musste.

Natürlich täuscht das rein Äußere des Cherubs, der scheinbar alle nur möglichen Konflikte gelöst und hinter sich gebracht hat. Schiff zieht den Hut auch insofern vor dem Menschen Beethoven, als er wie dieser plötzlich einmal in einen scheinbar cholerischen Modus gerät. Dann ist nicht mehr lachen. Umso besser, denkt man sich, er ist durchaus auch im Irdischen verwurzelt, einer, der auffahren kann und darf, wenn ihm etwas gegen den Strich geht.

Sir András Schiff gibt ein Lecture Concert in Berlin zu Bachs »Goldberg-Variationen«

Neben den genannten sollen andere Komponisten, denen sich Schiff zugewandt hat, nicht vergessen werden. Etwa Max Reger mit seinen ebenso sperrigen wie faszinierenden »Variationen über ein Thema von Bach«, Robert Schu­mann, dessen »Geister-Variationen« einen festen Bestand­teil des konzertanten Repertoires bilden, Schubert ohnehin, früher auch Chopin oder Scarlatti, heute vermehrt Johannes Brahms mit seinen beiden Klavierkon­zerten und den wunderbaren Intermezzi.

András Schiffs Vielseitigkeit ist eindrucksvoll verbürgt. Wer weiß noch, dass der junge Pianist, als er anno 1974 von den Funktionären des ungarischen Regi­mes nach Moskau zum Tschaikowsky-Wettbewerb entsandt wurde, Liszts Konzertetüde »La Leggierezza« und eine Étude-Tableau von Rachmaninow vortrug? Tempi passati, und doch. Die Devise lautete: musizieren, woraus sich bald eine ebenso erstaunliche wie beständige Karriere entfaltete. Sie erweiterte sich im Lauf der Zeit auch um Schiffs vital-sensibles Dirigat oder auch um die Freude des Impresarios, junge Talente vorstellen zu können.

Energie, Konzentration, Gedächtnis, Enthusiasmus, dazu ein Aufgehen in den Werken, wie es heute nur noch selten erlebt und gehört werden kann, das macht die Magie dieses Interpreten aus. Dass er daneben ein erfrischend mitteilsamer, witziger und anregender Zeitgenosse ist, in dessen Gegenwart keinerlei Starkult aufkom­men kann, sei hier ebenfalls vermerkt. Es ist nicht weniger ergiebig, mit Schiff über Literatur oder über das Kino zu diskutieren, überall ist der Freund informiert und mei­nungsstark, aber auch nachgiebig, wenn ihn die Gegen­meinung überzeugt oder mindestens interessiert.


Dieser Artikel erscheint im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 1/24).

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