Philharmonia Orchestra / Dalene / Bancroft (Elbphilharmonie, 28.1.2024)
Video on Demand vom 28.1.2024

Philharmonia Orchestra / Johan Dalene / Ryan Bancroft

Das Philharmonia Orchestra mit dem 23-jährigen Geigenvirtuosen Johan Dalene und Musik aus Skandinavien.

Das grandiose Philharmonia Orchestra aus London führt sein Publikum in diesem Konzert nach Skandinavien. Leiten lässt es sich dabei vom schwedisch-norwegischen Geiger Johan Dalene – einem der Top-Nachwuchsstars der Violine. Der ursprünglich geplante Esa-Pekka Salonen kann das Konzert krankheitsbedingt leider nicht dirigieren. Für ihn springt der junge US-amerikanische Stardirigent Ryan Bancroft ein, der erst kürzlich sein Debüt in der Elbphilharmonie gab. Zum Auftakt erklingt statt der Leonoren-Ouvertüre Nr. 2 die Nr. 3.

Ohnehin setzt sich Dalene besonders für die Musik nordeuropäischer Komponisten wie etwa Carl Nielsen ein. Nielsen zählt in seiner Heimat und im englischsprachigen Raum zum Standardrepertoire, wird hierzulande aber immer noch zu wenig gespielt. Sein Violinkonzert begeistert mit seinem kühnen Schwung noch immer wie bei der Uraufführung 1912.

Philharmonia Orchestra / Dalene / Bancroft (Elbphilharmonie, 28.1.2024) Philharmonia Orchestra / Dalene / Bancroft (Elbphilharmonie, 28.1.2024) © Sophie Wolter
Philharmonia Orchestra / Dalene / Bancroft (Elbphilharmonie, 28.1.2024) Philharmonia Orchestra / Dalene / Bancroft (Elbphilharmonie, 28.1.2024) © Sophie Wolter
Johan Dalene Johan Dalene © Sophie Wolter
Philharmonia Orchestra / Dalene / Bancroft (Elbphilharmonie, 28.1.2024) Philharmonia Orchestra / Dalene / Bancroft (Elbphilharmonie, 28.1.2024) © Sophie Wolter
Philharmonia Orchestra / Dalene / Bancroft (Elbphilharmonie, 28.1.2024) Philharmonia Orchestra / Dalene / Bancroft (Elbphilharmonie, 28.1.2024) © Sophie Wolter

Besetzung

Philharmonia Orchestra

Johan Dalene Violine

Dirigent Ryan Bancroft

Programm

Ludwig van Beethoven
Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 op. 72a

Carl Nielsen
Konzert für Violine und Orchester op. 33

– Pause –

Jean Sibelius
Lemminkäinen-Suite op. 22

Die Künstler:innen

Johan Dalene :Violine

Johan Dalene
Johan Dalene © Mats Bäcker

Ryan Bancroft :Dirigent

Ryan Bancroft
Ryan Bancroft © Benjamin Ealovega

Philharmonia Orchestra

Philharmonia Orchestra
Philharmonia Orchestra © Luca Migliore

Die Musik

Ludwig van Beethoven: Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 (1804–1805)

Im Herbst 1805 vollendete Ludwig van Beethoven nach einer langen und intensiven Arbeitsphase seine erste und einzige Oper »Leonore«, die später – in veränderter Version – als »Fidelio« in die Musikgeschichte eingehen sollte. Lange hatte Beethoven sich mit dem Gedanken getragen, ein szenisches Werk zu komponieren. Im Sinn hatte er dabei eine »Rettungs- und Befreiungsoper«, gemäß der aufklärerischen Maximen, die er sich zu eigen gemacht hatte.

Doch die Sujets, die ihm angeboten wurden, entsprachen nicht seinem Geschmack. Erschwerend kam hinzu, dass Beethovens künstlerisches Hauptaugenmerk bisher auf der Instrumentalmusik gelegen hatte. Die Komposition eines groß angelegten Vokalwerks, mit einzelnen »Nummern« und breit gestalteten, auch textlich in Verbindung stehenden Abschnitten, stellte deshalb eine Herausforderung für den Komponisten dar. Erst als er 1804 das Libretto »Léonore, ou L’amour conjugal« des Franzosen Jean Nicolas Bouilly in den Händen hielt, sah Beethoven die Gelegenheit gekommen, sich der anspruchsvollen Aufgabe einer Opernkomposition zu widmen.

Ludwig van Beethoven, Portrait von Joseph-Karl-Stieler, 1820
Ludwig van Beethoven, Portrait von Joseph-Karl-Stieler, 1820 © Beethoven-Haus Bonn

Vor allem die Komposition der Ouvertüre bereitete Schwierigkeiten: Sollte sie doch die Aufmerksamkeit der Zuhörer:innen erregen, als instrumentaler Prolog zum Rest des Werkes Stellung beziehen und dabei zugleich einen Zusammenhang herstellen. Beethovens »Leonoren-Ouvertüre« ist ein hochgradig dramatisches musikalisches Kondensat, das wichtige Handlungsmomente der Oper, in der eine Frau ihren Ehemann aus dem Staatsgefängnis von Sevilla befreien versucht und dafür ihr Leben aufs Spiel setzt, gleichsam in verdichteter Form vorwegnimmt.

Bereits in den ersten Takten werden die Hörer:innen von C-Dur ausgehend über eine dunkle Abwärtsskala gleichsam in Florestans Kerker geführt, bevor das Thema seiner Arie »In des Lebens Frühlingstagen« in As-Dur in den Holzbläsern zu hören ist. Auch die handlungsentscheidenden Trompetensignale aus dem Schlussakt der Oper erklingen in der Ouvertüre, die mit einer jubelnden C-Dur Coda die Freiheit des Helden musikalisch bestätigt.

Jonas Kaufmann singt »In des Lebens Frühlingstagen«

Die Pressestimmen nach der Uraufführung am 20. November 1805 machen deutlich, dass der Misserfolg der Oper auch an der Ouvertüre festgemacht wurde. So monierte ein Kritiker, sie bestehe »aus einem sehr langen, in alle Tonarten ausschweifenden Adagio, worauf ein Allegro aus C dur eintritt, das ebenfalls nicht vorzüglich ist«. Das Werk stehe insgesamt in »keinerlei Vergleich zu anderen instrumentalen Kompositionen von Beethoven«. So lief die Oper denn auch nur drei Nächte und wurde aus dem Programm genommen. Dies veranlasste Beethoven, sie im Anschluss mehrere Male zu überarbeiteten. Und bis die finale Version der Oper »Fidelio« vollendet wurde, hatte der selbstkritische Komponist insgesamt noch drei weitere Fassungen der Ouvertüre angefertigt. Ihre genetische Substanz ist zwar dieselbe, doch stehen sie alle in unterschiedlicher Beziehung zur Oper.

Mit der zweiten Fassung aus dem Jahr 1806, die aufgrund einer fehlerhaften Datierung als »Leonoren-Ouvertüre Nr. 3« bekannt ist, zeigt das Philharmonia Orchestra unter Ryan Bancroft heute Abend, wie Beethoven die Essenz der Oper kompositorisch herausgearbeitet hat: Die Musik skizziert nicht nur die Handlung, sondern leuchtet ihre verschiedenen Stimmungen und die Gefühlslagen der Protagonisten aus. Die eindrucksvolle »Leonore 3« etablierte sich schnell unabhängig von der Bühne im Konzertsaal und fand ihren festen Platz im sinfonischen Repertoire.

Carl Nielsen: Violinkonzert (1911)

Die Suche nach der richtigen musikalischen Form beschäftigte auch den dänischen Komponisten Carl Nielsen, als er im Jahr 1911 die Arbeit an seinem ersten Violinkonzert aufnahm. Der damals 46-Jährige hatte zu diesem Zeitpunkt unter anderem bereits zwei Opern und zwei große Sinfonien komponiert und sich dadurch als Komponist in seiner Heimat Dänemark etabliert. Ein wirklich durchschlagender Erfolg war jedoch bisher ausgeblieben. Schon lange hatte sich Nielsen mit dem Gedanken getragen, ein Instrumentalkonzert zu komponieren, diesen Gedanken aber nicht in die Tat umgesetzt. Als er im Juni 1911 seine Dritte Sinfonie beendet hatte und von Nina Grieg, der Witwe des berühmten norwegischen Komponisten Edvard Grieg, auf deren Landsitz eingeladen wurde, sah er schließlich die Zeit gekommen, sich dieser Aufgabe zu widmen. An seine Frau Anna schrieb Nielsen: »Hier herrscht süßer Frieden und Ruhe, und ich glaube, ich kann etwas erreichen.« Die Arbeit an dem Werk ging ihm jedoch nicht leicht von der Hand, und erst im Dezember 1911 betrachtete Nielsen das Konzert als vollendet.

Die Herausforderung, die gegebenen Konventionen der Gattung mit dem eigenen kompositorischen Anspruch zu verbinden, führten Nielsen letztendlich zu einer recht eigenwilligen musikalischen Anlage des Werks. Er entschloss sich, vom dreisätzigen Aufbau des Konzerts, der seit Wolfgang Amadeus Mozart für dieses Genre typisch war, abzuweichen. Stattdessen unterteilte er sein Werk in zwei kontrastierende Sätze, von denen jeder aus einer langsamen Einleitung besteht, gefolgt von großen, schnellen Absätzen. Ein absolutes Novum war es vor allem, das erste Solo der Violine – untermalt von Hörnern und Fagotten – unmittelbar am Anfang des ersten Satzes erklingen zu lassen.

Carl Nielsen, 1908
Carl Nielsen, 1908 © Georg Lindstrøm / Wikimedia

Mit der Darbietung des Konzerts heute reiht sich der Violinist Johan Dalene, der bereits 2022 als Rising Star in der Elbphilharmonie zu hören war, in die Reihe herausragender nordischer Virtuosen ein, die sich dieses Werks annehmen. Schon für Nielsen stand die Solo-Violine im Zentrum seiner kompositorischen Arbeit, und er hatte den Dänen Peder Møller im Gedächtnis, dem er das Werk widmete. Møller war es auch, der nach nur kurzer Probenzeit eine fulminante erste Aufführung des Konzerts am 28. Februar 1912 im Odd Fellow Palæ in Kopenhagen absolvierte.

Die Uraufführung des Konzerts, die zusammen mit der Aufführung von Nielsens Dritter Sinfonie stattfand, war ein grandioser Erfolg, der Nielsen zum langersehnten Durchbruch als Komponist verhalf. In der Presse wurde ausführlich über das Konzert berichtet. Und wenngleich stellenweise Kritik an der unkonventionellen Anlage von Opus 33 geäußert wurde, so waren sich die meisten Kritiker doch einig, dass es sich hier um ein Meisterwerk handle. »Das Konzert als Ganzes ist ein eigenartiges Werk«, so die Zeitung »Aftonbladet«. »Es könnten zwei verschiedene Werke sein, die getrennt gespielt werden. Übrigens ein ausgezeichnetes Stück Violinenmusik: das leidenschaftliche, singende Andante; das fröhliche Finale, das den Harlekin in einigen witzigen Passagen spielt, die auch von Melancholie durchzogen sind – ein brillant komponiertes Stück.« So beflügelt vom Erfolg schrieb Nielsen in einem Brief voller Genugtuung und mit einer sympathischen Portion der Selbstironie: »Mein ›Erfolg‹ war überwältigend, und die Stadt spricht viel darüber, meine Nase ist fast 17 Zentimeter nach oben gerichtet!«

»Tatsache ist, dass es aus guter Musik bestehen und dennoch die Zurschaustellung des Soloinstruments im besten Licht berücksichtigen muss, das heißt: inhaltsreich, populär und brillant, ohne oberflächlich zu sein.«

Carl Nielsen über sein Violinkonzert

Jean Sibelius: Lemminkäinen-Suite (1893)

Fast 100 Jahre nach Beethovens »Fidelio« kämpfte ein anderer Komponist mit der Gattung der Oper: Jean Sibelius. Angeregt durch das »Gesamtkunstwerk« Richard Wagners, kam der finnische Komponist zu der Schlussfolgerung, dass Musik ohne Worte unvollständig sei und plante zu Beginn der 1890er Jahre seine eigene Oper über finnische Mythen: »Der Bootsbau«. Bereits 1893 vollendete er die Ouvertüre – doch als Sibelius das Libretto schließlich einem wichtigen Mäzen zeigte, hielt dieser das Thema für ungeeignet. Um sich weiter inspirieren zu lassen, reiste der Komponist zuerst nach Bayreuth und München, wo eine Aufführung des Tristan den allergrößten Eindruck auf ihn machte. Doch statt dem gewünschten Impuls führten die Besuche der Wagner-Opern den Komponisten in eine tiefe Krise, und er sah sich außer Stande, seine kompositorischen Tätigkeiten überhaupt weiterzuführen.
 

»Ich glaube, dass ich eigentlich ein Musikmaler und Dichter bin. Ich behandle gerade ein mir sehr liebes Thema.«

Jean Sibelius


Die Überwindung dieser künstlerischen Blockade gelang ihm letztendlich durch die Vertiefung in die Musik von Franz Liszt. Angeregt davon schrieb er 1894 in einem Brief: »Ich glaube, dass ich eigentlich ein Musikmaler und Dichter bin. Ich behandle gerade ein mir sehr liebes Thema.« Dieser Brief bezieht sich vermutlich auf die »Lemminkäinen-Suite«, die sich nun zu formieren begann. Und anstelle einer Oper plante Sibelius nun eine Art von Programmsinfonie. Tatsächlich ist die Suite eine Sammlung von vier sinfonischen Dichtungen, die erst 1954 als Ganzes veröffentlicht wurden. Inhaltlich basieren sie auf Legenden aus dem Kalevala, in denen auch die Abenteuer des finnischen Schamanen Lemminkäinen und das Totenreich Tuonela behandelt werden. Musikalisch verwendete Sibelius jedoch Splitter seiner gescheiterten Oper »Der Bootsbau«, die er nun für sein Instrumentalwerk nutzte.

Jean Sibelius
Jean Sibelius © Lehtikuva / Wikimedia

Was die literarische Vorlage betrifft, so basiert der erste Teil der Suite »Lemminkäinen und die Mädchen auf der Insel« auf Rune 29 aus dem Kalevala: Lemminkäinen, der freudvolle, hübsche Held, wird von den Einwohnern in Pohjola gejagt, flieht aus seinem Elternhaus und segelt auf das offene Meer hinaus. Er landet auf einer Insel, wo er als Minnesänger erfreut. Der zweite Teil »Der Schwan von Tuonela« bezieht sich nicht direkt auf das Kalevala, doch verwies Sibelius in der Partitur dezidiert auf das »Reich des Todes – die Hölle der finnischen Mythologie«, umgeben von einem schwarzen Fluss, »auf dem der Schwan von Tuonela majestätisch und singend dahinzieht«.

Im dritten Teil »Lemminkäinen in Tuonela« (Rune 14) wirbt Lemminkäinen um die Tochter von Louhi, der Herrin von Pohjola. Louhi stellt ihm drei Aufgaben, wobei die letzte davon ist, den Schwan aus dem Fluss von Tuonela zu jagen, der die Welt der Lebenden von der Welt der Toten trennt. Aber bevor Lemminkäinen den Schwan erblickt, tötet ihn ein Hirte und wirft ihn in den Fluss. Nachdem Lemminkäinens Mutter von seinem Tod erfahren hat, macht sie sich auf die Suche nach ihm, sammelt seine Überreste aus dem Fluss und belebt ihn neu. Im letzten Teil »Lemminkäinens Rückkehr« (Rune 30) kehrt der Held nach erfolgreichen Schlachten zu seiner Mutter zurück.

In der Komposition wird deutlich hörbar, dass Sibelius die mythologische Vorlage nutzte, um bestimmte Atmosphären in Musik zu übersetzen. Doch war ihm dabei wichtig, nicht in platte Lautmalerei zu verfallen, sondern wirklich neue Formen der musikalischen Erzählung mit sinfonischen Mitteln zu erschaffen. Zur Auflösung des Satz-Zusammenhalts ging Sibelius über, als das Werk nach seiner Uraufführung im April 1869 – die der Komponist selbst dirigierte – zunächst auf gemischte Reaktionen stieß. So monierte ein Kritiker, das langsame Solo des Englischhorns im »Schwan von Tuonela« sei »kolossal lang und lästig«.

Im Anschluss überarbeitete der Finne das Werk erstmalig, doch obwohl sich das Publikum nach der neuen Aufführung nun begeistert zeigte, fiel das Werk in der Presse erneut durch. Sibelius, den die Kritiken tief verletzten, behielt daraufhin nur den »Schwan von Tuonela« und »Lemminkäinen zieht heimwärts« in seinem Repertoire. Es waren diese Werke, die ihm am Anfang des 20. Jahrhunderts auch zu seinem internationalen Durchbruch verhalfen. Die beiden anderen Sätze blieben jahrzehntelang vergessen, Sibelius sollte sie nie wieder dirigieren.


Text: Verena Mogl

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