»Die Fledermaus« in der Elbphilharmonie

Oper konzertant

Die Elbphilharmonie ist zwar kein Opernhaus – erstklassiges Musiktheater gibt es aber auch hier zu erleben. Ob in rein konzertanter Form oder als spannendes Hybridmodell.

Text: Ivana Rajič, 04.09.2023
 

Vor über 400 Jahren entstanden, hält ihre Erfolgsgeschichte bis heute an: In der Oper werden wilde Tiere gezähmt, die Herzen der Götter erweicht, siegreiche Liebeskämpfe besungen – und Zuschauer:innen wie Zuhörer:innen amüsiert und unterhalten. Sie ist die Kunstform, bei der die meisten künstlerischen Disziplinen zusammenwirken: Gesang, Schauspiel und Dichtung, Instrumentalmusik, Bühnenbild und Malerei, Maske, Kostüm und Choreografie – gleichberechtigt miteinander vereint seit Richard Wagners »Gesamtkunstwerk«.

 

Musik oder Szene?

Die ewige Frage, was bei einer Oper wichtiger sei – die Musik oder die Handlung bzw. Szene –, stellt sich bei Wagner also gar nicht mehr. Und doch hatte gerade eine konzertante, also rein musikalische Aufführung seines epochemachenden Opernzyklus »Ring des Nibelungen« 1968 eine »unvorstellbare Nachfrage und eine ›Ring‹-Begeisterung« ausgelöst, wie sie der deutsche Dirigent Wolfgang Sawallisch selten erlebt hatte: »Die Leute kauften sich Klavierauszüge und Texthefte. Sie saßen auf den Treppen des Auditoriums oder standen im Fond des Sendesaals: den ganzen ›Ring‹ durch. Der ›Ring‹ war das Stadtgespräch Roms.«

Konzertante Oper gehört von Anfang an fest ins Programm der Elbphilharmonie. Auch in der Saison 2023/24 kann man einige Musikdramen mit großer musikalischer Intensität erleben.

Aufnahme von Wagners »Rheingold« durch Wolfgang Sawallisch

So kann unter Umständen aus einer im Grunde halben Sache – kaum eine Oper ist schließlich für den Konzertsaal komponiert, außer Hector Berlioz’ berühmte Einzelerscheinung »Fausts Verdammnis« – eine ganze werden. Konzentriert wird sich ganz auf das musikalische Geschehen, gesungen und gespielt wird in Abendgarderobe auf der Bühne. »Wenn man die Musiker sieht, ist das einfach aufregend«, findet Sir Simon Rattle. Denn das Orchester erzählt etwa bei Wagner »alles, was im Gesang ungesagt bleibt«.

Zwischen aufwändig produzierten Filmen und durchgestylten Popkonzerten sah die konzertante Oper im 20. Jahrhundert jedoch zunehemend alt aus. Inzwischen experimentiert man mit diesem Modell, lotet »semikonzertante« Möglichkeiten aus und lässt die Grenzen zwischen etablierten Aufführungsformen verfließen.

In Elbphilharmonie und Laeiszhalle wird die ganze Bandbreite in der Saison 2023/24 mit zehn Produktionen vorgestellt, die Opernwerke aus dem Graben auf die Bühne holen: Von musikalischen Aufführungen von unter anderem Georges Bizets »Carmen« und Béla Bartóks »Herzog Blaubarts Burg« über ein von Calixto Bieito inszeniertes Konzert von Bernd Alois Zimmermanns »Die Soldaten« bis hin zu halbszenischen Abenden mit etwa Claude Debussys »Pelléas et Mélisande« und Jacques Offenbachs »Orpheus in der Unterwelt«.

Oper konzertant in der Saison 2022/23

Jakub Józef Orliński und Regula Mühlemann in Christoph Willibald Glucks »Orfeo ed Euridice« Jakub Józef Orliński und Regula Mühlemann in Christoph Willibald Glucks »Orfeo ed Euridice« © Sophie Wolter
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Sir Simon Rattle in Richard Wagners »Siegfried« Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Sir Simon Rattle in Richard Wagners »Siegfried« © Daniel Dittus
Alexandra Marcellier in Wolfgang Amadeus Mozarts »La Clemenza di Tito« Alexandra Marcellier in Wolfgang Amadeus Mozarts »La Clemenza di Tito« © Daniel Dittus
Philipp Glass' »Einstein on the Beach« Philipp Glass' »Einstein on the Beach« © Claudia Höhne
Adrienne Danrich und Kevin Short in George Gershwins »Porgy and Bess« Adrienne Danrich und Kevin Short in George Gershwins »Porgy and Bess« © Daniel Dittus

Bares für Rares

Es stehen auch Opern-Raritäten auf dem Programm, um die viele Opernhäuser eher einen Bogen machen: Werke wie Henry Purcells »Dido and Aeneas«, Giuseppe Verdis »I Lombardi alla prima crociata« oder Marc-Antoine Charpentiers »Médée« werden dort kaum aufgeführt, »weil sie zu schwierig zu inszenieren oder weil die Musik zwar toll, aber die Libretti zu schwach sind«, erklärt Christoph Lieben-Seutter.

Um solche Werke nicht ganz in Vergessenheit geraten zu lassen, ist es sinnvoll, sie im Konzertsaal zumindest musikalisch vorzustellen – der für den Generalintendanten der Elbphilharmonie deshalb »zur absolut gleichwertigen Möglichkeit wird, sich Opern zu Gemüte zu führen.« Denn man kann sich voll und ganz auf die Musik zu konzentrieren. 

 

»Ach, es graut mir«

Manchmal waren es aber auch die Opernhäuser selbst, die nicht in der Lage waren, eine Aufführung im Sinne des Werks im Zusammenspiel von Chor, Orchester, Solist:innen und Bühne zu bewerkstelligen. »Es ist ein Verhängnis«, klagte der Komponist und Operndirektor Gustav Mahler einst, »dass die größten Komponisten ihre Werke für diese Sau-Anstalt von Theater schreiben mussten, die ihrer Art nach jede Vollkommenheit ausschließt.« Er verzweifelte an technischen Mängeln, schreienden Sänger:innen, szenischen Nöten und einem zu lauten Orchester – an der trivialen Theaterpraxis, die seinen großen musikalischen Ansprüchen nicht gerecht wurde.

Auch Wagner wünschte sich von der Beschränktheit der Häuser zu befreien: »Ach, es graut mir vor allem Kostüm- und Schminke-Wesen«, gestand er im Gespräch mit seiner zweiten Frau Cosima verbittert ein. Überaus unangenehm fühlte er sich an die »ekelhaften Künstlerfeste« mit ihren Verkleidungen erinnert, wenn er zeitgenössische Produktionen zu Gesicht bekam: »Und nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen, möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden!«

Berühmte Opern- und Festspielhäuser in Deutschland

Bayreuther Festspielhaus Bayreuther Festspielhaus © Pressefoto
Semperoper Dresden Semperoper Dresden © extronic / adobestock
Festspielhaus Baden-Baden Festspielhaus Baden-Baden © Thomas Straub
Deutsche Oper am Rhein Deutsche Oper am Rhein © Andreas Krebs
Bayerische Staatsoper Bayerische Staatsoper © picture-alliance / dpa

Imaginäres Theater vs. Regietheater

In diesem Fall würde die Kulisse für das Geschehen in der eigenen Fantasie des Publikums gemalt werden. Dafür muss es aber erstmal die Handlung der Oper verstanden haben. Selbst als eingefleischte:r Operngänger:in verliert man schnell mal die Übersicht über die Verzweigungen im Stammbaum der Atriden – ob in »Elektra«, »Cassandra« oder »Iphigenie« – oder den Mikrokosmos an Beziehungen im Schloss Almaviva in »Le nozze di Figaro«.

Braucht Oper deshalb die große Bühne und Bilder, die in das Geschehen hineinziehen? Regisseur:innen, die eine fremde, oft jahrhundertealte Welt plausibel machen und ins Hier und Jetzt holen? »Es gibt tolle Inszenierungen«, weiß Lieben-Seutter, »aber es kann im Opernhaus eben auch viel schief gehen.«

In Dmitri Tcherniakovs Inszenierung von Francis Poulencs »Dialogues des Carmélites« etwa spielte die Handlung in einem Holzhaus, das von den Rängen aus aber nur schlecht einsehbar war. Und die Berliner Zeitung titelte über Vasily Barkhatovs Inszenierung von Giuseppe Verdis komplexer Oper »Simon Boccanegra«: »Jetzt noch schwerer zu verstehen«. Natürlich gibt es auch überwältigende Gegenbeispiele, deren musikalisch-szenisches Gesamterlebnis in Begeisterung versetzen kann. Fast 700.000 Besucher:innen weltweit haben etwa Barrie Koskys Inszenierung von Wolfgang Amadeus Mozarts »Zauberflöte« zu seinem größten Publikumserfolg und einem Export-Schlager gemacht.

Tcherniakovs Inszenierung von Poulencs »Dialogues des Carmélites« an der Bayerischen Staatsoper Tcherniakovs Inszenierung von Poulencs »Dialogues des Carmélites« an der Bayerischen Staatsoper
Barkhatovs Inszenierung von Verdis »Simon Boccanegra« an der Deutschen Oper Barkhatovs Inszenierung von Verdis »Simon Boccanegra« an der Deutschen Oper © Bettina Stöß
Barrie Koskys Inszenierung von Mozarts »Zauberflöte« an der Komischen Oper Berlin Barrie Koskys Inszenierung von Mozarts »Zauberflöte« an der Komischen Oper Berlin © Iko Freese / drama-berlin.de

Wie sieht eine gelungene (semi-)konzertante Opernaufführung aus?

Den Risikofaktor Regie mal außen vor gelassen – ist die musikalische Qualität allein Garant für eine gefeierte Opernaufführung? Zumindest ist zu bedenken, dass sich die Erwartungen des Publikums an die visuelle Ausdruckskraft eines Konzerts gewandelt haben. Bereits 1966 äußerte der Komponist Dieter Schnebel: »Ich amüsiere mich immer in Kammerkonzerten, wenn Musiker auftreten, wie die auf die Bühne latschen.« Alles, »was auf einer Bühne geschieht«, ist für ihn »theatralisches Geschehen«, und so wird die Musik selbst »sichtbar«. Mittlerweile macht sich jede:r Musiker:in und jede Gruppe, ob klein oder groß, international oder lokal bekannt, Gedanken über Licht, Deko, Outfits und natürlich auch die eigenen Bewegungen auf der Bühne.

Hochkarätige Dirigent:innen, Sänger:innen und Orchestermusiker:innen mit großer Bühnenpräsenz, die das Stück durch den Abend tragen können, sind für eine konzertante Opernaufführung daher unverzichtbar. Ebenso eine Dramaturgie, die mit der Perspektive spielt wie auch das ganze Ensemble einbezieht. So lassen die großen Gefühle auch im Konzert die ganze Welt zu einem Bühnenspektakel werden.

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