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Neue Klänge auf alten Instrumenten

Die (Wieder-)Entdeckung der Alten Musik.

Ob Renaissancemeister wie Orlando di Lasso und Josquin Desprez oder die Ur-Klassiker Mozart, Haydn und Beethoven: Das, was wir gemeinhin unter »klassischer Musik« verstehen, ist eigentlich immer ziemlich alt. Selbst die Musik von Komponisten wie Alban Berg und Anton Webern, die den Startschuss für die sogenannte Neue Musik abfeuerten, hat schon bald hundert Jahre auf dem Buckel. Was ist also in diesem Zusammenhang noch »Alte Musik«? Um das zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergangenheit.

Die Erfindung der »alten Musik«

Noch bis hin zu Johannes Brahms (†1897) und Gustav Mahler (†1911) ist es alltäglich, in Konzerten frisch komponierte Werke zu hören, über deren Wert oder Unwert gern auch lebhaft diskutiert wird. Schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts jedoch strukturiert sich die Musiklandschaft allmählich um. Die Orchesterinstrumente entwickeln sich sprunghaft weiter, immer anspruchsvollere Werke entstehen für deren neue klangliche Möglichkeiten. Als Symbole des wachsenden bürgerlichen Selbstbewusstseins baut man zudem groß dimensionierte Konzerthäuser, in denen sich die neuen Klänge wirkungsvoll entfalten können.

Bürgerliche Prachtentfaltung: Das Alte Gewandhaus Leipzig 1895
Bürgerliche Prachtentfaltung: Das Alte Gewandhaus Leipzig 1895 © Wikimedia Commons

Das Konzertleben verändert sich

Auch die Konzerte selbst nehmen eine neue Gestalt an. Inhaltlich bildet sich nach und nach ein bis heute gültiger Werkkanon heraus, aus dem sich die Konzertprogramme zumeist zusammensetzen. Die Reihenfolge Ouvertüre – Solokonzert – Sinfonie bürgert sich als Standard ein. Mit den immer komplexer werdenden Werken professionalisieren sich die Orchester nach und nach. Der Beruf des Dirigenten wird geboren, der nicht wie zuvor nur Taktschläger und vielleicht sogar noch Solist ist, sondern sich ausschließlich auf die künstlerische Ausdeutung des Werks konzentriert – die Interpretation.

Neu mit dabei: der »Interpret«

Diese wiederum gewinnt mit der Verengung des Repertoires an Bedeutung, geht es doch nun immer öfter darum, einem schon bekannten Werk eine neue Lesart zu entlocken. So werden die Grenzen zwischen Schöpfer und Interpret schärfer: Der Komponist gibt den Werktext vor, den der Interpret nur noch – naja – »interpretieren« darf. Die Kunst der Improvisation – früher zentraler Bestandteil jedes Konzerts – gerät um die Mitte des 19. Jahrhunderts nach und nach in Vergessenheit. Gleichzeitig erreicht der Starkult um einzelne Solisten wie beispielsweise Franz Liszt bislang nie dagewesene Dimensionen.

Frauenschwarm Liszt / Karikatur von 1842
Frauenschwarm Liszt / Karikatur von 1842 © Wikimedia Commons

An den Rand gedrängt: Bach und Händel

Zu diesen Gegebenheiten passt die ältere Musik nicht mehr. Vorklassische Werke wie die von Georg Friedrich Händel oder Johann Sebastian Bach werden zwar weiterhin gespielt, bleiben aber vorerst Randerscheinungen abseits des gängigen Konzertbetriebs. So schält sich allmählich die Unterscheidung zwischen »alter« Musik und der sonstigen konzerttauglichen »Klassik« heraus.

Vom kleinen zum großen »A«

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts weht ein frischer Wind durch das Musikleben. In etlichen gesellschaftlichen Kreisen hat man genug vom Starkult um die Künstler und dem elitären Gedanken, der dem bürgerlichen Konzert zugrunde liegt.

Einfluss der Jugendbewegung

Und so rückt im Umfeld der sogenannten Jugendbewegung (vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz) die Musik in ihrer sozialen Bedeutung in den Fokus. Persönlichkeiten wie der Hamburger Fritz Jöde verfolgen die Idee, das Musizieren für alle als gemeinschaftsbildende Tätigkeit zu fördern. Das ist mit den Sinfonien von Beethoven, Brahms oder Mahler natürlich schwierig, also muss ein neues Repertoire her.

Lieder für alle – eine Idee mit Folgen

Fündig werden Jöde und seine Anhänger im Volkslied – und in der fernen Vergangenheit. So erweist sich zum Beispiel die Vokalmusik der Renaissance als auch für Laien ausführbar und wird in diesem Zuge wieder neu entdeckt. Volkslieder jeglicher Couleur werden aufgezeichnet und herausgegeben. Parallel dazu entstehen Notenausgaben vorklassischer Musik, alte Instrumente werden wiederentdeckt und gesammelt – und die frisch geschlüpfte Disziplin der Musikwissenschaft nimmt sich der Erforschung dieser frühen Epochen an. Der Begriff der »Alten Musik« – mit großem »A« als Gegenstück zum 1919 von Paul Bekker geprägten Terminus »Neue Musik« – bürgert sich für die Musik bis etwa 1750 ein.

Eine Gruppe weiblicher Wandervögel beim Singen
Eine Gruppe weiblicher Wandervögel beim Singen © Wissenmedia

Suche nach dem Originalklang :Die historische Aufführungspraxis

Mit dem wachsenden Interesse an Werken der Renaissance und des Barock und mit der Geburt der Historischen Musikwissenschaft stellt sich zunehmend die Frage, wie diese »Alte« Musik denn wohl ursprünglich einmal geklungen haben könnte. Genau das wird nun methodisch erforscht: Alte Instrumente werden restauriert und teils rekonstruiert und man liest historische Traktate. Nach und nach wächst so das Bewusstsein dafür, wie groß die Unterschiede zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hinsichtlich des praktischen Musizierens sind. Im Zusammenspiel zwischen Forschung und Praxis beginnt die Suche nach dem Originalklang – die sich heute nicht mehr allein auf die Musik des Barock beschränkt.

»Die Musik jeder Epoche kann mit den Klangmitteln ihrer Zeit am lebendigsten dargestellt werden«

Nikolaus Harnoncourt

Vom Müsli-Orchester zum Goldstandard

Gerade am Anfang dieser Entwicklung gelten Künstler, die sich der Alten Musik auf diese Weise nähern, vielen als esoterische, weltfremde Spinner. Das Klischee vom Müsli-Musiker, der – bewaffnet mit Barockbogen und Naturtrompete – die Welt retten will, hält sich in manchen Kreisen bis in die 1980er Jahre. Dennoch wird die historische Aufführungspraxis nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich salonfähig: 1953 gründet Nikolaus Harnoncourt mit dem Concentus Musicus Wien das erste Ensemble, das sich ganz auf die historisch informierte Aufführung barocker und vorbarocker Werke spezialisiert. Es folgen 1954 die Cappella coloniensis in Köln und 1955 das niederländische Leonhardt-Consort. Bis in die heutige Zeit entsteht international eine große Zahl hochkarätiger Formationen, die sich darum bemühen, Werke so zu Gehör zu bringen, wie sie in ihrer Entstehungszeit geklungen haben.

Concentus Musicus Wien mit Nikolaus Harnoncourt am Cello (1972)
Concentus Musicus Wien mit Nikolaus Harnoncourt am Cello (1972) © Concentus Musicus Wien

Hörvergleich :»Traditionell« vs. »historisch informiert«

Antonio Vivaldi, Vier Jahreszeiten: Winter

Anne-Sophie Mutter, Herbert von Karajan

Il Giardino Armonico, Giovanni Antonini

Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion: Erbarme dich

Christa Ludwig, Otto Klemperer

Paul Esswood, Nikolaus Harnoncourt

Das Problem mit dem Originalklang

»Vieles, was wir momentan tun, ist pure Hypothese. Wir wissen wirklich sehr, sehr wenig.«

Gustav Leonhardt

Und damit wären wir beim nächsten Problem: Denn schon den originalen Klang von spätromantischen Werken wie denen Gustav Mahlers zu rekonstruieren, dürfte heutzutage schwerfallen – man kann ihn ja nicht mehr fragen, was genau er sich vorgestellt hat. Noch viel mehr gilt das für Renaissance-Komponisten wie Josquin Desprez oder Orlando di Lasso, und auch für scheinbar vertraute Gestalten wie den allgegenwärtigen Georg Friedrich Händel.

Musikalisches Rätselraten

Nicht nur unterscheiden die Instrumente des Barock und der Renaissance sich in Bauweise und Klang zum Teil erheblich von den modernen. Auch die Spieltechniken waren damals andere, es galten andere Regeln für Verzierungen – und viele Musikstücke gerade der Renaissance waren nicht einmal für eine klar definierte Besetzung geschrieben. Wie schnell wird die Musik gespielt? Wann werden Lautstärke und Tempo verändert? Solche scheinbar selbstverständlichen Informationen standen in der Renaissance nicht in den Noten. Und auch wenn Angaben zum Tempo mit der Zeit üblich werden, sind sie vor der Erfindung des Metronoms doch sehr relativ.

Die Notation lässt viele Fragen offen. Auszug aus einer Renaissance-Komposition
Die Notation lässt viele Fragen offen. Auszug aus einer Renaissance-Komposition © Public Domain

So original wie es halt geht …

Fazit: Je tiefer man in die Materie einsteigt, desto mehr Fragen drängen sich auf. Und so ändert sich im Laufe der Jahrzehnte denn auch die Haltung gegenüber dem Anspruch des »Originalklangs«. War man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch überzeugt, dass man mit genügend Forschungsarbeit den ursprünglichen Klang der »Alten Musik« werde rekonstruieren können, so setzte sich nach und nach die Erkenntnis durch, dass das bestmögliche Ergebnis nur eine Annäherung an ein Ideal sein kann, das heutzutage schlicht niemand mehr kennt.

Text: Juliane Weigel-Krämer; Stand: 10.02.2021

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