Luigi Nono

Luigi Nono im Portrait

Wege entstehen beim Gehen – über den italienischen Komponisten Luigi Nono

Hinreißend ungefällig :Ein Annäherungsversuch an Luigi Nono und seine Musik

Text: Tom R. Schulz, 16. Januar 2024

Kurz nach Erscheinen des »Elbphilharmonie Magazins« bedenkt mich sein Chefredakteur stets mit einem Textauftrag fürs nächste Heft. Er findet immer ein Thema, von dem er glaubt, dass es mir liegt, weil er ahnt, dass ich mich da ein bisschen auskenne. Letzten Juni aber fragte er nach etwas, wovon ich kaum einen blassen Schimmer hatte. Ob ich anlässlich der drei Konzerte in der Elbphilharmonie im März 2024 zu Ehren Luigi Nonos, der im Januar 2024 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, etwas über diesen Komponisten schreiben könne? Ich besaß nichts von Nono, nichts über Nono, keine Aufnahme, keine Sekundärliteratur.

Im Studium hatten wir eine Passage seines »Il canto sospeso« analysiert, als Beispiel für serielle Musik. Nono war mir als Kompositionslehrer von Helmut Lachenmann ein Begriff, auch als große Inspiration für den ehemaligen Hamburgischen Generalmusikdirektor Ingo Metzmacher. Stücke von Luigi Nono im Hamburger Konzertleben sind ungefähr so rar wie die blaue Mauritius. Selbst in der Elbphilharmonie, die doch viel Zeitgenössisches bringt.

Im Fokus: Luigi Nono :Saison 2023/24

2024 hätte Luigi Nono seinen 100. Geburtstag gefeiert – ein schöner Anlass, ihm einen besonderen Schwerpunkt zu widmen. Mit von der Partie: das NDR Elbphilharmonie Orchester mitsamt NDR Vokalensemble, das SWR Experimentalstudio und das innovative Quatuor Diotima.

Luigi Nono
Luigi Nono © AAF – ArchivioArte Fondazione di Modena, FMAV Fondazione Modena Arti Visive

Eine unangekündigte Nono-Aufführung aber habe ich in der Elbphilharmonie selbst miterlebt, es war kurz vor Corona: Am Ende eines Konzerts mit Teodor Currentzis, dem SWR Symphonieorchester und Mahlers Neunter Sinfonie spielten zwei Geiger von unterschiedlichen Positionen im Großen Saal aus das Duo »›Hay que caminar‹ soñando«, Nonos allerletztes Stück, das er aus einer früheren Komposition entwickelt hat.

Die lapidaren Worte stammen aus einem Gedicht von Antonio Machado. Sie waren so etwas wie das Mantra Luigi Nonos: »No hay camino. Hay que caminar.« (Es gibt keinen Weg, Wege entstehen beim Gehen). Ein Trost allen, die fürs Konventionelle auf immer verloren sind. Die Musik habe ich als krasse und etwas einsame Erfahrung in Erinnerung. Aber ehrlich gesagt blieb mir vor allem im Gedächtnis, dass das knapp halbstündige Stück für eine Zugabe geradezu absurd lang ist. Und ästhetisch das Gegenteil eines flotten Rausschmeißers (was nach Mahlers Neunter allerdings auch absurd gewesen wäre). Nun bin ich ein Mensch, dessen Bildung an Emmentaler Käse erinnert, indem sie wie dieser größtenteils aus Löchern besteht (um eine Formulierung Alfred Polgars zu borgen). Doch bleibe ich selbst im fortschreitenden Alter bemüht, immer mal eines der Löcher in etwas von Emmentaler Substanz zu transformieren. Also sagte ich dem Chefredakteur zu. Man wächst ja mit seinen Aufgaben.

Ich habe mir dann im Laufe des Sommers antiquarisch allerhand CDs mit Musik Nonos zugelegt, Filmdokus im Netz geschaut, ohne Ende online Schriften über ihn gelesen, einige gebrauchte Bücher über ihn und sein Werk gekauft und in der Staatsbibliothek den Briefwechsel zwischen Lachenmann und Nono entliehen (und die Leihfrist zweimal verlängert).

Luigi Nono: »Hay que caminar«

Die Antwort auf alle Fragen

Etwas alberichhaft, das Ganze. Aber Nono hat mich einfach ganz unvermutet ganz ungeheuerlich gepackt. Die Zeit schien beim Hören mancher seiner rätselhaften Stücke stehen zu bleiben. Immer mal wieder schien mir, was da aus den Lautsprechern kam, die gültige Antwort auf alle ungelösten Fragen der Welt zu sein. Nono artikuliert sich in einer Klangsprache von außerordentlicher, dabei wahnsinnig flexibel organisierter Intensität. Es ist wirklich eine Sprache, mit eigener Grammatik, Syntax, eigenen Zeichen und Wörtern. Und mit ihrem ganz eigenen Zeitbegriff.

Nonos Musik kommt von weit her, und in der Wahl der Mittel – erst nur akustische Instrumente, bald Tonband, später Elektronik, Mixturen daraus, dazu fast immer Gesang vielgestaltigster Art – ist sie unerhört modern geblieben. Auch und gerade in ihrer späten Neigung, sich selbst zum Verschwinden zu bringen, am Rande des Hörbaren ihr prekäres Dasein zu fristen, gewinnt Nonos Musik für mich totale Präsenz und Überwältigungskraft. Sie duldet allerdings keine Sekunde Nebenbeihören. Dann verliere ich sofort den Faden und muss das Stück von vorn abspielen, bis zur nächsten Ablenkung, bis zur nächsten Abwanderung meiner Gedanken. Nonos Musik ist eine Meditation.

Materialist mit Widersprüchen

Die meisten all der Scharfsinnigen, die Nono durch und durch analysiert haben, würden ihn mit Klauen und Zähnen gegen genau dieses Diktum verteidigen. Meditation? Um Gottes willen! Nono hat die Stille gesucht und gewissermaßen säkular geheiligt, aber an ihm und seiner Musik darf auf keinen Fall etwas esoterisch sein. Stimmt ja auch. Nono war ein beinharter Materialist. Aber einer mit, wie mir scheint, (geheimen) Widersprüchen, mit einer Sehnsucht nach Auflösung aller Materie, nach Leere. 1952 trat er der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) bei und blieb ihr treu bis an sein Lebensende. Die Kommunistischen Parteien Italiens, Frankreichs und Portugals waren in den Siebzigerjahren auch bei uns ziemlich angesagt.

Als Eurokommunisten, wie man sie nannte, gebärdeten sie sich viel weniger doktrinär und moskauhörig als die DKP in der Bundesrepublik. Sie strebten nach einem Kommunismus mit menschlichem Antlitz, irgendwie hatten sie sogar etwas leicht Hedonistisches. Die rauschenden Feste der »Unitá«, dem Parteiorgan der PCI, in manchem nicht enden wollenden ligurischen Sommer meiner Jugend: unvergessen.

Nono demonstriert gegen die Biennale di Venzia, 1968
Nono demonstriert gegen die Biennale di Venzia, 1968 © Archivio Cameraphoto Epoche/akg-images

Kein Salonkommunist

Nono aber war kein Salonkommunist, kein Genusslinker. Er arbeitete in seiner Musik mit großem Ernst für die Utopie eines Menschen, der dem Menschen nicht länger ein Wolf ist. Er legte den Finger in die Wunde des Faschismus (»Il canto sospeso«, 1956; »Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz«, 1965), wandte sich gegen die Grauen, Gräuel und Ungerechtigkeiten der Gegenwart (»Intolleranza 1960«). Nono, selbst ein Kind des gehobenen Bürgertums, das auf Geheiß des autoritären Vaters erst Jura studieren musste, ehe es sich der Musik widmen durfte, hat in der Konsequenz seiner künstlerischen Mittel die bürgerliche Musikkonvention und die Bourgeoisie ausdauernd attackiert und auch entsprechende Reaktionen kassiert, bis hin zu (zeitweiligem) Aufführungsverbot.

Szene aus Nonos »Intolleranza«
Szene aus Nonos »Intolleranza« © Archivio Cameraphoto Epoche/akg-images

Seine »Fabbrica illuminata« (1965) ist ein packendes, peinigendes, erregendes Stück Musique concrète wider die unmöglichen Arbeitsbedingungen in einem Genueser Stahlwerk, generiert ausschließlich mit aufwendig bearbeiteten Bandaufnahmen von Klängen am Ort des Geschehens und einer Sopranstimme, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Der Text dazu entstammt teilweise Arbeitsanweisungen, die in der Fabrik aushingen, und Nono beteiligte die Arbeiter am Produktionsprozess. Im zweiten seiner drei »Canti di vita e d’amore« (1962) erklingt ein Sologesang im Sopran, der einem die Leiden einer von französischen Militärs gefolterten jungen algerischen Widerstandskämpferin unter die Haut injiziert (»Djamila Boupachà«). Sein einziges Streichquartett »Fragmente – Stille, an Diotima« (1979) und das Spätwerk »Prometeo« (1984) zählen zu den höheren Heiligtümern der Musik des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Fragil das eine, ungemein aufwendig in der Raumdisposition und magisch in seiner Wirkung das andere.

Ausschnitt aus Luigi Nonos »Prometeo«

Hinreißend ungefällig

Wer sich länger Nonos Klangwelt aussetzt, wird vielleicht eine anhaltende Fremdheit konstatieren und gerade dies womöglich sehr zu schätzen lernen. Seine Musik ist ungefällig, aber sie wird mit der Zeit hinreißend ungefällig, weil man spürt: Das ist wahre, kompromisslose Kunst ohne jede illustrative Faser oder Geste. Ästhetisch gibt es dahinter eigentlich kein Zurück. Aber der Mainstream der Musik ist natürlich viel stärker. Von dort aus gesehen, beleuchtet das helle, das nicht klinische, sondern zutiefst humane Licht der Nono-Welt ein entlegenes Wolkenkuckucksheim. Vieles von dem, was in der allerneuesten Musik zur Aufführung gelangt, insbesondere die unbekümmert tonale und blauäugig-breitwandig instrumentierte Orchestermusik aus den USA, klingt, als hätte es Nono nie gegeben, auch Cage nicht. Musikalisch leben wir in einem Zeitalter der Restauration.

Nono war, wie es in allen mir bekannten Schriften über ihn hinlänglich zu lesen steht, der Denker in Musik. Der minutiöse Geistarbeiter. Der kompositionshandwerklich saumäßig Beschlagene. Der Intellektuelle. Der Weitgereiste. Und vor allem: der Venezianer. Die überreiche Musikgeschichte seiner Heimatstadt hat er von der Pike auf studiert, bis zurück zum »Odhecaton«, der ersten gedruckten Sammlung von Musik aus dem Jahr 1501, die in einer antiken Kopie unter Kommilitonen beim Kompositionsunterricht von Nonos Lehrer Gian Franco Malipiero herumgereicht wurde, um manche der uralten Lieder darin neu zu instrumentieren. Nono hat endlos Analysen der Musik der frankoflämischen Schule und der im Markusdom zu Venedig erstmals erprobten Mehrchörigkeit von Giovanni Gabrieli angefertigt, ausdauernd Kontrapunkt-Studien betrieben, ganze Werke von Monteverdi bis Hindemith exzerpiert und Zwölftonmusik von Schönberg und Webern ergründet – so tief, bis er sich imstande sah, darauf aufbauend selbst etwas zu komponieren.

Von »dolce far niente« während des Studiums also keine Spur. Und gleich sein erstes aufgeführtes Werk, die »Variazoni canoniche sulla serie dell’op. 41 di Arnold Schoenberg«, löste 1950 im deutschen Elfenbeinturm der musikalischen Avantgarde, bei den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, ein Beben aus. Die Anregung dazu kam von Hermann Scherchen, der sozialistischen Dirigentenlegende aus Berlin, einem Weggefährten Schönbergs und Bergs, bei dem Nono 1948 in Venedig einen Dirigierkurs belegte und der in dieser Zeit zu seinem Mentor wurde.

Blick aufs Wasser

Venedig war ihm aber auch sonst alles. In einem Film über die innige Künstlerfreundschaft zwischen Nono, dem Pianisten Maurizio Pollini und dem Dirigenten Claudio Abbado aus dem Jahr 2001 zeigt die Kamera von der Wasserseite aus einmal das Haus, in dem Nono geboren, aufgewachsen und in dem er 1990, mit 66 Jahren, auch gestorben ist. Es steht westlich von San Marco, an der Promenade von Zattere. Die Treppenstufen vor dem Haus scheinen direkt ins Wasser zu führen. Gegenüber liegt die Giudecca, die fischförmige Insel im Süden Venedigs, auf der Nono den größten Teil seines Lebens gewohnt hat. Als er dort hinzog, Mitte der Fünfziger, war das eine ärmliche Arbeiterinsel. Heute ist die Giudecca, glaubt man dem »Corriere della Sera«, das Soho Venedigs. Ich stelle mir vor, wie er als Kind morgens aus der Haustür getreten ist, um zur Schule zu gehen, und wie sein erster Blick zwangsläufig immer auf das Wasser vor ihm fiel. Auch das Haus auf der Giudecca liegt unmittelbar am Wasser. Nono ohne Wasser, ohne das Wasser seiner Heimatstadt, ist wie ein Fisch auf der Alm.

Luigi Nono und Claudio Abbado
Luigi Nono und Claudio Abbado © marka/eps / UIG / akg-images

Er hat selbst oft in poetischen Kürzeln und synästhetischen Bildern über den Klang Venedigs gesprochen. Er höre die Steine dort, die Farbe der Steine. Er sehe nicht die Farbe des Meeres, aber er höre die Farbe des Wassers. San Marco besichtige er nicht, er höre den Ort. Was also anderes als in Klang verzauberter venezianischer Novembernebel ist etwa aufgehoben in »Post- Prae-Ludium«, Nonos drei Jahre vor seinem Tod komponiertem Solo für elektronisch bearbeitete Tuba? Man meint, in diesem filigranen, extrem obertonreichen und leisen Gewaber, das mit seinem einsam verlorenen, zögernden Getute an verfremdete Walgesänge erinnert, das diesige Licht des Himmels und die oberen trüben Schichten des Wassers in den Kanälen dieser Stadt zu sehen, nein, zu hören. Aber, ich bekenne es etwas schamhaft: Ich war noch niemals in Venedig. Jetzt, denke ich, wird es langsam Zeit für mich. Nono sei Dank, auch dem Chefredakteur dieses Magazins.



Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 1/24).

Portrait Luigi Nono :Konzerte in der Saison 2023/24

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