Lisa Streich

Lisa Streich: Was sie hören will

Flirrend kristalline Klänge für die Elbphilharmonie: Über die schwedische Preisträgerin des Claussen-Simon-Kompositionspreises 2020.

Dem Traum so nah

Als Lisa Streich zum ersten Mal Musik im Großen Saal der Elbphilharmonie hört, weiß sie sofort: Hier könnte sie ein paar ihrer delikatesten Klangvorstellungen verwirklichen, flirrend kristalline Passagen. Für eine so transparente Akustik zu komponieren, davon träumt sie schon lange. An diesem Märztag ist die Gelegenheit zum Greifen nahe: Die 35-jährige Schwedin tritt in der Endrunde des erstmals vergebenen Claussen-Simon-Kompositionspreises an. Wer ihn gewinnt, erhält den Auftrag für ein neues Werk – prestigeträchtig uraufgeführt vom NDR Elbphilharmonie Orchester im Rahmen des neuen Festivals »Elbphilharmonie Visions«, und zwar genau in diesem Großen Saal.

Vier Finalisten, ein Preis

Wenig später steht Lisa Streich auf dem Dirigentenpodest im Scheinwerferlicht, neben ihr Chefdirigent Alan Gilbert. Sein Orchester spielt heute bereits bestehende Stücke der vier Finalisten, um den Preisträger zu ermitteln. Im Zuschauerraum lauschen nur die Wettbewerber und die Mitglieder der Jury. Streich erklärt Gilbert und dem Orchester ruhig, freundlich und bestimmt, wie sie sich die Umsetzung ihres Stückes »Segel« vorstellt. Dann strömt die Musik in den Raum: mal sinnlich und intensiv, mal zart, mal kraftvoll, mit leisen Passagen zwischen plötzlichen Ausbrüchen. Es ist eine frische Klangsprache, der man so noch nie begegnet ist, von der man mehr hören möchte. »Lisa Streich hat ihre eigene Stimme«, sagt Alan Gilbert, der natürlich Mitglied der Jury ist. »Die Musiker erkannten gleich die Qualität ihrer Musik und fanden ihr Werk besonders. Aber es ist auch ein Stück, das dich beim Spielen nicht sofort ›umarmt‹.«

Erlerntes hinter sich lassen

Streichs Musik klingt gerne mal leichter, als sie tatsächlich ist. Und sie treibt die Interpreten oft aus der Komfortzone. »Da gibt es manchmal Proteste von Ensembles oder Dirigenten, weil sie gezwungen sind, das akademisch Erlernte hinter sich zu lassen«, berichtet die Komponistin schmunzelnd.

»Aber ich will organisch bleiben. Ich begreife ein Ensemble als Skulptur und stelle mir beim Schreiben immer vor, wie es am Ende aussieht. Manchmal entstehen bestimmte Bewegungen automatisch beim Spielen der Musik, dann komponiere ich auch choreografisch. Manchmal sind die Musiker anders als gewohnt im Raum aufgestellt. Und manchmal muss der Dirigent mit seinen Bewegungen den Klang wandern lassen, was über das traditionelle Dirigieren hinausgeht. Ich arbeite viel mit klanglichen Kontrasten, die profitieren zusätzlich von der visuellen Ebene. Das finde ich auch fürs Publikum schön. Denn Neue Musik darf dem Zuhörer schon auch noch die Hand reichen.«

»Manchmal gibt es Proteste von Ensembles oder Dirigenten.«

Die Komponistin Lisa Streich mit weißer Jacke, schaut ins Licht
Die Komponistin Lisa Streich mit weißer Jacke, schaut ins Licht © Manu Theobald

Assoziationsräume öffnen

Genau das scheint auch für die Titel ihrer Werke zu gelten: Lisa Streich arbeitet häufig mit Klarnamen wie »Mantel«, »Zucker« oder eben »Segel« – Wörter, die jedem etwas sagen. Dabei wählt sie ganz bewusst vermeintlich belanglose Dinge, die erst bei genauerem Hinschauen mehrdeutig werden: »Ein Mantel zum Beispiel kann Vieles sein, nicht nur Kleidung, sondern auch Hülle, Wärme, Abgrenzung. Mit den Titeln versuche ich, Assoziationsräume zu öffnen, ohne zu diktieren. Sie geben dem Hörer die Möglichkeit, weiterzudenken, wenn er mag.«

Mut zur Schönheit!

»Ich schreibe, was ich hören will, was ich woanders noch nicht gefunden habe.«

Dass zeitgenössische Musik auch an ein breiteres Publikum denkt oder gar dezidiert »schön« klingen will, ist nach den kopflastigen Jahrzehnten der dominierenden Avantgarde noch nicht allzu lange wieder salonfähig. Lisa Streich nickt: »Ja, als ich noch ganz jung war, habe ich mir Harmonien und Akkorde natürlich verboten. Ich wollte auch anecken, anti-establishment sein, anti-bourgeois, also sehr akademisch – und dabei ist genau das heute oft bourgeois. Ich habe gemerkt: Mit Schönheit kann ich sogar viel besser anecken!« So entschied sie sich, nicht mehr gegen etwas anzuschreiben: »Es macht keine Freude, immer nur im Negativ zu denken. Ich möchte für etwas schreiben. Kurzum, ich schreibe das, was ich hören will, was ich woanders noch nicht gefunden habe.« Eben das war auch schon ihr ureigener Antrieb, als sie mit 13, 14 Jahren im stillen Kämmerlein zu komponieren begann.

Die Bühnenscheue

Vorgezeichnet war ihr Weg nicht unbedingt, kein Musikerhaushalt, keine komponierenden Vorbilder in Sicht. Die Mutter, eine Englischlehrerin, bereitete einmal für den Unterricht Bernsteins »West Side Story« vor und legte die Platte zu Hause auf. Das hörte die kleine Lisa und wollte von diesem Moment an unbedingt Musik machen. Sie lernte Violine und Klavier, später kam die Orgel hinzu. An ein Musikstudium dachte sie erst gar nicht, denn von einer einschlägigen Karriere hielt sie eine gewisse Bühnenscheu ab.

»Das war ein Augenöffner«

Auch das Komponieren zum Beruf zu machen, kam ihr lange überhaupt nicht in den Sinn. Bis sie mit 19 Jahren nach Berlin ging: »Das war ein Augenöffner. Hier habe ich erst gesehen, dass es weibliche Komponisten gibt. Das wusste ich vorher gar nicht, es stand eben nie eine Partitur von einer Frau auf meinem Klavier. Ich dachte wirklich, das kann man nur machen, wenn man ein Mann ist. Und dann gehe ich in dieses Konzert, und die spielen ein Stück von einer Rebecca Saunders – von einer Frau! Ich war Feuer und Flamme.«

»Ich dachte wirklich, das kann man nur machen, wenn man ein Mann ist.«

Preisgekrönt

Längst interessiert sich die Musikwelt für Lisa Streichs Kompositionen. Die Erfolge bei Wettbewerben und die Riege der prestigeträchtigen Auftraggeber sprechen für sich: Sie gewann den Rom-Preis der Villa Massimo, die Roche Young Commission des Lucerne Festivals, den Ernst von Siemens Kompositionspreis. Und sie hat für den ARD-Musikwettbewerb 2021 das obligatorische Auftragswerk komponiert – eine Ehre, die zuvor Kalibern wie Wolfgang Rihm, Mauricio Kagel, Fazıl Say oder besagter Rebecca Saunders zuteilwurde.

Fragwürdige Fragen

»Es ist ein Gewinn, wenn Mütter komponieren.«

Doch auch noch im 21. Jahrhundert wird die Komponistin immer wieder mal mit einer zumindest fragwürdigen Frage konfrontiert: Wie sie das denn mache, komponieren und Mutter sein? Streich hat ihre Kinder sogar schon verschwiegen, »nicht, dass es dann heißt: ›Ach, dann hat sie eh keine Zeit zu komponieren‹«. Mittlerweile aber hat sie einen selbstbewussten, offensiveren Umgang mit dem Thema gefunden: »Meine besten Stücke habe ich geschrieben, als die Kinder gerade auf der Welt waren – unter diesen extremen Bedingungen, mit all dem Schlafmangel, wo jede Minute, in der du arbeiten kannst, zählt! Ich glaube, in dieser besonderen Phase ist man wahnsinnig sensibel, hat man ganz andere Rezeptoren, um die Welt wahrzunehmen. Da fließt ein anderer Inhalt in die Musik, etwas sehr Besonderes, das ich versuche, kreativ zu nutzen. In diesem Sonderzustand sind bisher noch nicht viele Stücke geschrieben worden. Es ist ganz klar ein Gewinn, wenn Mütter komponieren.«

»Work hard, live hard!«

Lisa Streich ist viel herumgekommen, von einer renommierten Musikhochschule zur nächsten. Erst Berlin, die Stadt, in der alles möglich war. Dann Stockholm, wo sie sich gut auf sich selbst besinnen konnte. Dann Salzburg, dort gab es »einerseits richtig stressige, strenge Gehörbildung und andererseits regelmäßig drei Stunden Improvisation. Das war toll!« In Köln begegnete sie ihrem Lieblingslehrer Johannes Schöllhorn, bei dem es gar nicht unbedingt um Noten ging, sondern um Allgemeinwissen, um Literatur oder Physik. Und in Paris hat sie gelernt, dass man wahnsinnig viel arbeiten kann, ohne viel zu schlafen: »Work hard, live hard.« Schwedisch, Deutsch, Französisch und Englisch spricht sie fließend.

Komponieren zwischen Meer und Bett

Heute lebt Lisa Streich auf der schwedischen Insel Gotland. Sie sagt, sie habe immer am Meer wohnen wollen, das sei perfekt für ihre Suche nach dem inneren Hören. Von ihrem Haus bis zum Wasser sind es nur 500 Meter. Dorthin geht sie, wenn es beim Schreiben einmal hakt. Im Angesicht des Meeres würden die Probleme klein und nichtig, und fast immer tauchten Lösungen auf. Zum tatsächlichen Komponieren allerdings zieht sie einen anderen Ort vor: ihr Bett. »Das ist einfach gemütlicher. Ich mag es, den Tag komponierend zu beginnen und zu beenden. Morgens bin ich noch ganz frei im Kopf, abends ist es schön, die Musik mit in den Schlaf zu nehmen. Und während der Nacht tut sich dann ja im Kopf weiter etwas.« In diesen besonderen Stunden, zwischen den Dämmerungen, entsteht nun auch das Stück für den Claussen-Simon-Kompositionspreis. Und Anfang Februar 2023 war es soweit: Da wurde das neue Werk in der Elbphilharmonie uraufgeführt.

Dorothee Kalbhenn, 9.12.2020

Magazin »Visionen« liegt auf einem Flügel
Magazin »Visionen« liegt auf einem Flügel © Philipp Seliger

Dies ist ein Artikel aus dem Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 01/2021), das drei Mal pro Jahr erscheint.

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