»Catamorphosis« Filmdreh

Konzertfilm »Catamorphosis«

Zerbrechlich-hoffnungsvolle und kraftvoll-brutale, zerstörerische Klänge: Das berauschende Werk der isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdóttir eindrucksvoll in Szene gesetzt.

Das Stück »Catamorphosis« der Komponistin Anna Thorvaldsdóttir bewegt sich zwischen Extremen. Mal klingt es leicht und hoffnungsvoll, mal bedrohlich und brutal-zerstörerisch. Kein Wunder, denn die rund 20-minütige Komposition setzt sich mit der »fragilen Beziehung zu unserem Planeten« auseinander, so Thorvaldsdóttir. »Die Natur ist so vielfältig, sie kann grausam und gefährlich sein, aber auch subtil und schön. Das ist sehr inspirierend.« In dem Konzertfilm werden diese Gegensätze aufgenommen, eindrucksvoll inszeniert von Tänzerinnen in surrealen Kostümen, die extra für das Festival angefertigt wurden. »Meine Musik ist sehr körperlich«, sagt Anna Thorvaldsdóttir. »Ich fühle, wie sie in mir pulsiert. Es ist also spannend zu sehen, wie andere Menschen das Stück angehen«.

Im Februar 2023 wurde »Catamorphosis« im Rahmen des Neue-Musik-Festivals »Elbphilharmonie Visions« erstmals in der Elbphilharmonie aufgeführt. Die fast schon filmhaft anmutende Musik erfordert einiges von den Musiker:innen auf er Bühne. Während die Pianistin die Saiten des Flügels mit Plektren anschlägt, schrubben die Perkussionisten mit großen Bürsten über die Felle ihrer Trommeln – eindrucksvolle Szenen, die im Konzertfilm mit den Bewegungen der Tänzerinnen verschmelzen.  

Interview mit der Komponistin Anna Thorvaldsdóttir

Zur Musik

Als Anna Thorvaldsdóttir 2020 ihr Werk Catamorphosis fertigstellte, lag die globale Durchschnittstemperatur 1,2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau. Die 1,5-Grad-Marke, unter der die schlimmsten Folgen der globalen Erwärmung noch abgewendet werden könnten, war bereits bedrohlich nahe gerückt. Diese Erkenntnis löste zwiespältige Gefühle in der Komponistin aus, zum einen die schiere Verzweiflung darüber, dass es schon bald zu spät sein könne, wenn es nicht schleunigst zu einer klimapolitischen Trendwende komme. Auf der anderen Seite die Hoffnung: Noch halten wir als Weltgemeinschaft das Zepter in den Händen, noch haben wir die Möglichkeit, die Zerstörung unseres Planeten zu verhindern und unsere Zukunft zu retten.

Zwischen diesem emotionalen Spagat aus Verzweiflung und Hoffnung entstand Thorvaldsdóttirs Komposition, die im Januar 2021 von den Berliner Philharmonikern uraufgeführt wurde. Der Titel verdeutlicht, was auf dem Spiel steht: »Catamorphosis« ist ein Kunstwort, angelehnt an »Metamorphosis«, griechisch für »Veränderung«, und spielt damit auf das gleichnamige Werk von Ovid an, ebenso wie auf Richard Strauss’ Metamorphosen für Streicher, das die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs verarbeitet. Die Vorsilbe »Cata-« wiederum findet sich etwa im griechischen Wort »Katabasis«, was in der klassischen Tragödie die Katastrophe oder den Gang in die Unterwelt beschreibt, – den Moment, an dem das Schicksal seinen Lauf nimmt, während bis zu diesem Zeitpunkt noch alles im Lot zu sein schien.

»Catamorphosis« Filmdreh »Catamorphosis« Filmdreh © Daniel Dittus
»Catamorphosis« Filmdreh »Catamorphosis« Filmdreh © Daniel Dittus
»Catamorphosis« Filmdreh »Catamorphosis« Filmdreh © Daniel Dittus
»Catamorphosis« Filmdreh »Catamorphosis« Filmdreh © Daniel Dittus
»Catamorphosis« Filmdreh »Catamorphosis« Filmdreh © Daniel Dittus
»Catamorphosis« Filmdreh »Catamorphosis« Filmdreh © Daniel Dittus
»Catamorphosis« Filmdreh »Catamorphosis« Filmdreh © Daniel Dittus
»Catamorphosis« Filmdreh »Catamorphosis« Filmdreh © Daniel Dittus
»Catamorphosis« Filmdreh »Catamorphosis« Filmdreh © Daniel Dittus
»Catamorphosis« Filmdreh »Catamorphosis« Filmdreh © Daniel Dittus
»Catamorphosis« Filmdreh »Catamorphosis« Filmdreh © Daniel Dittus
»Catamorphosis« Filmdreh »Catamorphosis« Filmdreh © Daniel Dittus

Diesen Moment zu verhindern ist Thorvaldsdóttir ein persönliches Anliegen. Die Natur war nicht nur die prägende Umgebung ihrer Kindheit in Island, sondern ist auch die sprudelnde Inspirationsquelle ihres Schaffens. So entstand bei dieser Auseinandersetzung mit unserem fragilen Verhältnis zur Erde ein »ziemlich emotionales Stück, dessen Kernaussage sich durch die Balance zwischen polaren Kräften ergibt: Kraft und Zerbrechlichkeit, Hoffnung und Verzweiflung, Bewahrung und Zerstörung«, so die Komponistin über ihr Werk. »Es ist sehr dramatisch, aber auch voller Hoffnung – vielleicht können wir irgendwo zwischen dem Natürlichen und Unnatürlichen, zwischen Utopie und Dystopie einen Weg finden, um ein Gleichgewicht innerhalb der Welt und mit der Welt zu finden, die uns umgibt.«

Catamorphosis konfrontiert uns also mit drei Oberbegriffen – dem Natürlichen, dem Unnatürlichen und der Gegensätzlichkeit –, die Thorvaldsdóttir allesamt in ihre Komposition einfließen lässt. Gleich zu Beginn des Stücks, im ersten Teil Origin (Ursprung) und auch noch im zweiten Teil Emergence (Entstehung), ist eine Reihe von Naturgeräuschen zu hören: Klänge, die an das Säuseln des Windes erinnern, an das Rauschen eines Baches oder das Zwitschern der Vögel. Insgesamt lässt sich das Werk in sieben ineinander übergehende Sätze unterteilen, die einen Zyklus in drei Stufen abbilden: Die Teile 1 und 2 stehen für einen Anfang, etwas neu Erschaffenes. Am Ende steht mit Evaporation (Verdunstung) ein Auflösen des vorhandenen Zustands, ein Dahinsieden in ein unbekanntes Jenseits. Dazwischen treffen Gegensätze aufeinander: Polarity (Gegensätzlichkeit), Hope (Hoffnung), Requiem (Totenmesse) und Potentia (Macht).

»Das Stück soll von Anfang bis Ende fließen«, sagt Thorvaldsdóttir, womit sie eine Natur-Metapher zu ihrem kompositorischen Leitsatz erklärt. Für Catamorphosis bedeutet dies nicht nur, dass die sieben Teile ohne Pause ineinanderfließen, sondern vielmehr, dass sie auch musikalisch eng verwoben sind und einander bedingen. So verbindet ein Orgelpunkt – ein lang gehaltener Ton – in den tiefen Streichern einzelne Passagen; musikalische Figuren kehren immerzu wieder: etwa ein mit Bürsten erzeugter Rhythmus auf den großen Trommeln, Vogelstimmen oder ein wellenartiges Motiv im Klavier.

Gegensätze begegnen sich vor allem im dritten Teil Polarity. Hier treffen bedrohliche Rhythmen der tiefen Instrumente auf seichte Streicher-Klangflächen; laute Passagen werden abrupt von leiseren abgelöst. Catamorphosis enthält Stellen, die der traditionellen Harmonik folgen, und andere, die musikalisch kaum greifbar sind. Dann wiederum gibt es Momente, in denen die Klänge plötzlich entgleiten. In diese Sphäre des Unnatürlichen dringt Thorvaldsdóttir tief ein – auch, indem sie sich von klassischen Methoden der Klangerzeugung löst. Gleich zu Beginn, in Origin, wird etwa mit einem Stück Papier über die Saiten der Harfe gestrichen. »Ätherische Klänge unbestimmter Tonhöhe« nennt die Komponistin den von ihr angestrebten Sound. So unbestimmt wie die Zukunft unseres Planeten.


Text: Marvin J. Deitz, Stand: Februar 2023

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