Víkingur Ólafsson

Interview mit Víkingur Ólafsson

»Für mich ist Bach das Alpha und Omega« – der Pianist Víkingur Ólafsson über seine Liebe zu Bach und den besonderen Reichtum der »Goldberg-Variationen«

Kaum zu glauben, aber Víkingur Ólafsson ist mittlerweile fast 40 Jahre alt. Dabei sieht der 1984 in Reykjavík geborene Pianist mit den charakteristischen runden Brillengläsern immer noch ein bisschen aus wie eine Mischung aus Harry Potter und Mathe-Ass. In diesem eigenwillig lässigen Hipster-Look hat er es mit seinen Klassik-Alben auch schon in die Pop-Charts geschafft. Der Mann kommt an, auch und gerade bei einer jüngeren, nicht zwingend klassikaffinen Zielgruppe.

Kurz nach seinem Studium in Island und New York gründete Víkingur Ólafsson sein eigenes Plattenlabel, gewann einen Preis nach dem anderen und wurde von der Presse für sein »weiches Staccato« und seine »nuancierte Anschlagstechnik« gerühmt. Die »New York Times« bezeichnete ihn für seine Bach-Interpretationen schlicht als »Iceland’s Glenn Gould« – nicht der schlechteste Vergleich. Ohnehin spielt Bach in der rasanten Karriere des Pianisten eine besondere Rolle, auch wenn er nach eigener Aussage »einen großen musikalischen Appetit« habe. Rameau, Mozart, Debussy, Chopin hat er im Programm, dazu die Werke seines Freundes Philip Glass. Überhaupt setzt er sich für Neue Musik ein, hat bereits mehrere Klavierkonzerte isländischer Komponist:innen uraufgeführt.

Víkingur Ólafsson
Víkingur Ólafsson © Ari Magg

Durchbruch mit Bachs »Goldberg-Variationen«

Aber es war ein kleiner Auftritt mit Bachs »Goldberg-Variationen« in Berlin, bei dem einige Scouts des Traditionslabels Deutsche Grammophon auf ihn aufmerksam wurden und ihm einen Exklusivvertrag anboten. Allerdings hat er die »Goldberg-Variationen« zunächst einige Jahre auf Eis gelegt, sich in der Zwischenzeit mit anderen Werken Bachs beschäftigt, um nun zu diesem bedeutenden Klavierzyklus zurückzukehren – mit frischen Ohren.

Wenige Tage vor diesem Interview hat er im Frühling 2023 die Aufnahmesitzungen dazu abgeschlossen, wie ohnehin die ganze kommende Spielzeit unter dem Motto »Goldberg« steht: Víkingur Ólafsson geht mit dem Variationen-Zyklus, den Bach angeblich zur nächtlichen Erbauung eines an Schlafstörung leidenden Adeligen komponierte, auf musikalische Weltreise – und macht dabei gleich zweimal Halt in Hamburg.

»Goldberg-Variationen« :Saison 2023/24

Bachs Meisterwerk barocker Variationskunst in fünf Variationen – am Cembalo, am modernen Flügel und in zwei außergewöhnlichen Trio-Formationen

Interview mit Víkingur Ólafsson

Herr Ólafsson, Sie haben einmal gesagt, dass Sie Bach jeden Tag stundenlang spielen könnten. Keine Angst, dass er Sie irgendwann langweilt?

Für mich ist Bach das Alpha und Omega. In seinen Werken fasst er sozusagen zusammen, was in der Musikgeschichte vor ihm war, und transformiert es in seine eigene Kunst. In gewisser Weise enthält seine Musik aber auch beinahe alles, was nach ihm kommt. Bei Bach gibt es eine erstaunliche Einigkeit darüber, dass er der größte Komponist aller Zeiten ist. Bei allen anderen gehen die Meinungen doch deutlich auseinander, selbst bei Mozart oder Beethoven. Mit Bach ist es ein bisschen wie mit Shakespeare unter den Schriftstellern: Ihm ist es gelungen, etwas zu schaffen, was größer ist als er selbst. Außerdem hat er so viele verschiedene Aspekte meiner musikalischen Entwicklung genährt.
 

Welche denn?

Er hat mich gelehrt, über die Struktur von Musik nachzudenken, was mir wiederum dabei hilft, wenn ich Mozart oder Chopin spiele. Außerdem war er mein Lehrmeister in technischer Hinsicht, ja er ist für mich der anspruchsvollste Klavierkomponist, weil man sich hinter der Polyfonie, wie er sie schreibt, nicht verstecken kann. Bei fast allen anderen Komponisten ist es einfacher, sich da aus der Affäre zu ziehen.

Nehmen wir zum Beispiel Rachmaninows 3. Klavierkonzert, das in seiner Virtuosität sicher schwierig ist. Aber hinter all der Virtuosität kann man sich auch ein bisschen verstecken. Das geht bei Bach nicht, weil er den Interpreten exponiert und jede Schwäche in der Interpretation gnadenlos aufdeckt, technisch wie geistig. Und schließlich verbindet Bachs Musik den Pianisten mit dem Komponisten in mir. Bei ihm muss man zu einer Art Co-Schöpfer werden. Er hat uns zwar die Noten hinterlassen, aber sonst gibt es keine Angaben zu Tempo, Dynamik, Phrasierung oder Artikulation. Es geht also darum, aus dieser Freiheit seine eigene Interpretation zu komponieren.

Víkingur Ólafsson Víkingur Ólafsson © Markus Jans

»Bach ist es gelungen, etwas zu schaffen, was größer ist als er selbst.«

Sie kommen gerade aus einer Art Bach-Klausur. Wie war’s denn?

Ich habe die »Goldberg-Variationen « aufgenommen. Zwei Wochen lang habe ich keine andere Musik gespielt, sondern sechs Stunden jeden Tag nur dieses eine Stück, weil ich so tief eintauchen wollte wie möglich. Bei jedem anderen Komponisten wäre ich bei einer derartigen Konzentration vermutlich verrückt geworden, mit Bach aber funktioniert das für mich wunderbar.


Wann fing diese innige Beziehung zu ihm denn an, gab es ein Schlüsselerlebnis?

Das Witzige daran ist, dass ich Bach als Kind überhaupt nicht mochte. Vermutlich lag das daran, dass seine Musik eher trocken und technisch vermittelt wurde. Mit etwa 13 habe ich dann eine Aufnahme des »Wohltemperierten Klaviers« von Edwin Fischer aus den 1930erJahren gehört, eine der frühesten Aufnahmen, die wir von dem Stück haben. Da ist irgendetwas in mir passiert, denn zum ersten Mal verstand ich die Poesie in Bachs Musik. Dafür hat Edwin Fischer auf ewig einen Platz in meinem Herzen, auch wenn seine Interpretation für unsere heutigen Ohren ungewohnt romantisch klingt. Aber sein Zugang zu dieser Musik hat etwas in mir ausgelöst.

Edwin Fischer spielt Bachs »Wohltemperiertes Klavier«

Wenn Sie heute Aufnahmen mit Bach hören, welche sind das?

Ich höre mir gerne seine Orchesterwerke, Kantaten und großen Chorwerke an, die Passionen zum Beispiel. Bevor ich mit den »Goldberg-Variationen« ins Studio ging, wollte ich mein Gedächtnis aber auch da ein bisschen auffrischen. An einem Tag habe ich mir daher zwölf verschiedene Interpretationen angehört – nicht zwangsläufig den ganzen Zyklus, aber zumindest einige Variationen, um eine Vorstellung von den verschiedenen Herangehensweisen zu bekommen. Nachdem ich einige der berühmtesten Einspielungen gehört hatte, kam ich zu dem Schluss, dass die Aufnahme von Glenn Gould von 1955 für mich immer noch die beste ist, besser als seine spätere Version von 1981.


Viele Ihrer Kollegen vermeiden es, andere Aufnahmen zu hören, bevor sie selbst ins Studio gehen. Warum Sie nicht?

Sehen Sie, ich habe wirklich faszinierende Aufnahmen gehört. Doch kam es zu der paradoxen Situation, dass ich, so spannend ich die Interpretationen auch fand, nicht mit ihnen übereinstimmte und mir total klar war, dass ich es anders machen möchte. Mir war es aber wichtig, ein Gefühl für die Aufnahmegeschichte zu bekommen. Diese Auseinandersetzung mit der Interpretationsgeschichte hat mich schlussendlich in meinen interpretatorischen Entscheidungen bestärkt. Außerdem hat es mein Verständnis dafür gestärkt, dass nicht jeder meine Interpretation mögen wird. Denn mir ging es mit einigen Aufnahmen genauso. So ist das mit Bach: Der Spielraum ist groß, und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Pianisten sind daher oft immens. Das macht es ja so spannend, sich mit den verschiedenen Zugängen auseinanderzusetzen.
 

Keine Note zu viel

Nikolaus Harnoncourt hat einmal gesagt, Bachs Geheimnis läge darin, dass bei ihm keine Note zu viel ist. Stimmen Sie zu?

Wie könnte ich Harnoncourt widersprechen, ich würde es jedoch etwas einschränken. Ich stimme zu, was die Passionen und die großen Orchesterwerke angeht, auch die wichtigen Stücke für Tasteninstrumente. Aber unter den Klavierwerken gibt es auch weniger bedeutsame Stücke mit einer teilweise fast schon exzessiven Ornamentik. Das liegt natürlich auch an dem anderen Instrument, für das Bach schrieb: Auf dem Cembalo verklingen die Töne viel schneller als auf dem Klavier. Es gibt Momente in der Musik, die sich nicht eins zu eins auf das Klavier übertragen lassen, und in diesen Fällen haben wir Interpreten dann zwei Möglichkeiten: Entweder wir spielen diese Stücke nicht auf dem Klavier, oder wir suchen nach einer Möglichkeit, wie wir die Essenz der Musik auf das Klavier übertragen können, indem wir zum Beispiel weniger oder andere Triller spielen. Die Aufführungspraxis zu Bachs Zeit erlaubt uns da mehr Freiheit, als wir es heute gewohnt sind. Mein Instrument ist das Klavier, darauf fühle ich mich wohl, zum Beispiel weil es mir andere dynamische Abstufungen erlaubt. Wenn Bachs Cembalowerke auf dem Klavier nicht klingen, liegt das nicht am Instrument, sondern an mangelnder musikalischer Vorstellungskraft.


Wer sind Ihre persönlichen Favoriten unter den Bach-Interpreten, außer Edwin Fischer und Glenn Gould?

Vor allem Murray Perahia, sein Bach-Vermächtnis ist schlicht fantastisch. Sein Spiel ist so persönlich, geprägt von einer großen Aufrichtigkeit und voller Licht. Man spürt darin förmlich die Warmherzigkeit des Interpreten. Außerdem bin ich ihm sehr dankbar, dass er die Tradition gestärkt hat, Bachs Klavierkonzerte auf dem Flügel zu spielen und sie nicht ausschließlich den Cembalisten zu überlassen.

Víkingur Ólafsson spielt Bachs »Goldberg-Variationen«

Jetzt reinhören!

Víkingur Ólafsson
Víkingur Ólafsson Víkingur Ólafsson © Markus Jans

Die »New York Times« hat Sie einmal als den »isländischen Glenn Gould« bezeichnet – ein Segen oder eher ein Fluch?

Mit den Medien ist es immer ein Spiel. Dieser Vergleich kam recht früh in meiner Karriere und hat eine Menge Menschen auf mich aufmerksam werden lassen, es war also durchaus ein Segen. Aber natürlich bin ich nicht wie Glenn Gould, niemand ist das, solche Vergleiche können also auch gefährlich werden. Allerdings bin froh, dass es Gould war, denn er ist eine der spannendsten Figuren. Vor allem für die Aufnahmegeschichte war er von immenser Bedeutung, weil er geholfen hat, die Studioeinspielung als eigenständiges Kunstwerk neben der Konzertaufführung zu etablieren. Die »Goldberg«-Aufnahme von 1955 ist ein Meilenstein und hat die Produktion klassischer Musik auf ein völlig neues Niveau gehoben. Ich habe einmal gelesen, dass er die »Aria« mehr als zwanzig Mal aufgenommen hat, weil es ihm darum ging, mit den Möglichkeiten der Studiotechnik so tief wie möglich in die Musik einzudringen und so etwas wie die ultimative Version des Stücks zu diesem Zeitpunkt zu konservieren.
 

Mit den »Goldberg-Variationen« um die Welt

Worum ging es Ihnen bei Ihrer eigenen Einspielung?

Es gibt zwei Möglichkeiten mit den »Goldberg-Variationen«: Entweder betont man die Geschlossenheit des Zyklus und ordnet die einzelnen Variationen dieser Idee unter, indem man sie miteinander verbindet, etwa in den Tempo-Relationen. Oder man macht genau das Gegenteil und demonstriert Bachs Meisterschaft darin, aus der gleichen DNA dreißig derart unterschiedliche kleine Welten zu schaffen. Das macht die Schönheit des Stücks ja aus, wie man aus einer so einfachen »Aria« diese Fülle von unterschiedlichen Universen, diesen unglaublichen Reichtum erschaffen kann. Für die Studioproduktion habe ich endlos über die Struktur des Zyklus nachgedacht. Einige Variationen habe ich außerdem in unterschiedlichem Tempo aufgenommen. Das gibt uns in der Postproduktion die Möglichkeit, auszuprobieren, welche Varianten besser ins Gesamtkonzept passen. Dabei denke ich natürlich darüber nach, wie ich die dreißig Variationen zu einem Gesamtwerk vereinen kann, ohne dass sie am Ende alle gleich klingen.
 

Die kommende Saison haben Sie bewusst unter das Motto »Goldberg-Variationen« gestellt: Ein Jahr lang spielen Sie den Zyklus in zahllosen Konzerten um die ganze Welt­…

… und Hamburg ist die einzige Stadt, in der ich ihn sogar zwei Mal spiele! Am Anfang der Spielzeit bin ich damit in der Laeiszhalle zu Gast, am Ende kehre ich nach Hamburg zurück, dann in die Elbphilharmonie. Es ist ein bisschen wie mit den »Goldberg-Variationen« selbst: Am Anfang steht die »Aria«, danach folgen die Variationen, bevor am Ende wieder die »Aria« kommt. Und so werden auch die Konzerte sein, die sich alle voneinander unterscheiden werden, weil sich meine Sicht auf das Stück und meine Art, es zu spielen, über dieses Jahr hinweg zwangsläufig verändern werden. Auch das war ein Grund für diese Entscheidung, dass ich wissen wollte, wie tief ich in eine Komposition eintauchen und wie viele verschiedene Facetten ich darin für mich entdecken kann.

Bach ist nicht aus Marmor

Worin liegen die Herausforderungen für Sie als Interpret bei den »Goldberg-Variationen« – technisch und interpretatorisch?

Technisch gehören sie mit zum Anspruchsvollsten, was je für Klavier komponiert wurde. Bach experimentiert in jeder Variation damit, was auf dem Instrument zu seiner Zeit möglich ist. Der Zyklus ist so vielgestaltig und steckt voller Extreme. Zum Beispiel müssen sich die Hände häufig kreuzen, so dass wir in den verrücktesten Positionen spielen müssen. Allerdings sehe ich die »Goldberg-Variationen« nicht als technisches Stück – für mich ist die größte Herausforderung, dem Zyklus in den eigenen musikalischen Überlegungen gerecht zu werden, sich mit Bachs kompositorischem Prozess auseinanderzusetzen und diesen in das eigene Spiel einfließen zu lassen. Es geht nicht darum, technische Hürden zu meistern, sondern darum, eine Idee auszudrücken.


Haben Sie eigentlich immer noch die Bach-Büste zu Hause? Was sagt sie Ihnen, wenn Sie Bachs Musik spielen?

Ich habe sogar mehrere Büsten von ihm. Vor allem erinnern sie mich stets daran, dass Bach keine Statue ist. Er ist nicht aus Marmor – und das gilt auch für seine Musik. Insofern ist die Büste fast eine Warnung, weil wir gerade in der klassischen Musik eine Tendenz haben, Komponisten und ihre Werke auf einen Sockel zu stellen, der unantastbar ist. Dabei muss es doch genau um das Gegenteil gehen: die Komponisten und ihre Musik heute zum Leben zu erwecken.
 

Interview: Bjørn Woll, Stand: August 2023

Dieses Interview erschien im Elbphilharmonie Magazin (3/23)

Saison 2023/24: Die »Goldberg-Variationen« in der Elbphilharmonie :Konzerte im Überblick

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