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Interview mit Marko Nikodijević

»Die Bratsche weint sehr viel in diesem Werk« – der serbische Komponist exklusiv über seine brandneue Psalmodie für Viola und Orchester.

Einen Tag vor Probenbeginn zur Uraufführung seines Bratschenkonzerts »Gospodi vozvah« (am 21. September 2023 mit dem SWR Symphonieorchester und Teodor Currentzis in Stuttgart) nahm sich Marko Nikodijević Zeit für ein Gespräch: über das neue Werk, seinen Glauben und sein Vertrauen in die Interpreten.


 

Der Serbische Psalter aus 148 Miniaturen, die das Alte und Neue Testament illustrieren © Creative Commons

 

Marko Nikodijević, Sie haben Ihrem neuen Bratschenkonzert den Titel »Gospodi vozvah« gegeben, »Erhöre mich, o Herr«, und es eine Psalmodie genannt. Das deutet einen sakralen Hintergrund an …

»Gospodi vozvah« greift eine Psalmenmelodie vom sogenannten sechsten Tonus des serbisch-orthodoxen Gesangbuchs auf. Es ist mein zweites Stück dieser Art. »gebetsraum mit nachtwache«, das erste, entstand 2019 für Vladimir Jurowski und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin – dort habe ich den fünften Tonus verwendet. Im orthodoxen Gesangbuch werden alle liturgischen Gesänge des Jahres in acht Toni geordnet, und jeder von ihnen enthält eine Tonskala und eine Ansammlung melodischer Formeln, die nur dort vorkommen. Der sechste ist der abstruseste, denn er kombiniert zwei übermäßige Sekunden.

Und was machen Sie in »Gospodi vozvah« mit diesem Tonus?

Ganz Verschiedenes. Das Material wird zersprengt, in kleine Teile zerschnitten. Aber man muss wissen: Diese Gesangsmelodien kommen auch schon in der orthodoxen Tradition in vielfältigen Fassungen vor. Die in Notenform verfassten Gesangbücher stammen alle aus dem 18./19. Jahrhundert; davor hat man eine Zeichennotation verwendet. Und in all das sind verschiedene kulturelle Einflüsse eingegangen. Die Musikwissenschaft hat aus diesen Quellen »gültige« melodische Formeln rekonstruiert, aber die Ursprünge sind schon etwas anders. Viele der Intervalle sind nicht temperiert, die melodischen Formeln haben deshalb nichts mit unseren Dur- und Moll-Tonarten zu tun.

Der Titel des Konzerts bezieht sich auf den 140. Psalm …

Ja, aber nicht in der Luther’schen Fassung, bei uns ist die Nummerierung eine andere. Es handelt sich um den Psalm »Erhöre mich, o Herr, und höre mein Gebet«. Ich habe mit der Komposition nach dem Tod meines hochverehrten Kompositionslehrers Srđan Hofman im September 2021 begonnen. Das hat mich so erschüttert, dass ich dieses Stück zu seiner Erinnerung geschrieben habe.

In Ihrem Œuvre finden sich mehrere Werke mit religiöser Bedeutung, etwa der schon erwähnte »gebetsraum« oder »Absolutio« oder »dies secundus«. Was bedeuten Ihnen Religion und Glaube?

Offensichtlich gibt es da eine große Zuneigung – schwierig, über etwas zu sprechen, das man eigentlich nur fühlt. Ich bin halt ein religiöser Mensch und lebe meine Spiritualität.

Im christlich-orthodoxen Sinne?

Da bin ich eher ökumenisch orientiert, auch weil mich das faszinierende Repertoire der katholischen und protestantischen Kirchenmusik so sehr interessiert, insbesondere die Polyphonie des 14. Jahrhunderts. Carlo Gesualdo spielt in meinem Schaffen eine große Rolle. Oder auch der franko-kanadische Komponist Claude Vivier, der ebenfalls eine sehr spirituelle Natur war. Es hat allerdings lange gedauert, bis ich mich an das getraut habe, was mir eigentlich am nächsten stehen sollte, also das orthodoxe Gesangbuch und die Musik des Balkans. Ich musste da eine psychologische Barriere überwinden, musste viele Jahre im Ausland leben, bis ich mich unvoreingenommen diesem Erbe widmen konnte. Wenn man in einer konservativeren Kultur aufwächst, wo Folklore und eine Quasi-Religiösität eine Allianz eingehen, braucht man Abstand. Es dauerte, bis ich das reine Wasser der Quellen erkennen konnte hinter dem, was in minderer Qualität daraus gemacht wurde. Das war eine große psychologische Mauer. Und so brauchte ich meine Zeit, bis ich diese Psalmodie schreiben konnte, denn es gab einiges innerlich zu bewältigen.

Carlo Gesualdo Carlo Gesualdo © Creative Commons
Claude Vivier Claude Vivier © J.A. Billard

Psalmodierend ist der Part der Solobratsche angelegt. Wovon erzählt sie?

Die Bratsche ist unentwegt am Singen und am Beten. Sie versucht mit ihrem Gesang, das Orchester in einen Raum zu locken. Die Orchestrierung ist am Anfang sehr sparsam. Die Bratsche selbst klingt manchmal zerbrechlich, sie spielt so zart wie möglich, und da muss man ihr natürlich viel Raum lassen. Ich wollte sie nicht verstärken, obwohl ich zwischendurch an eine Mikrofonierung gedacht hatte. Aber es ging mir darum, die Konzentration des Publikums auf diese Klänge an der Schwelle zum Hörbaren zu lenken. Alles sollte sehr leise sein.

Sie verzichten bei »Gospodi vozvah« auf Elektronik, die für Sie in früheren Werken noch eine große Rolle gespielt hat. Warum?

Das hat nicht gepasst. Ich habe so oft schon Elektronik verwendet und muss niemandem mehr beweisen, dass ich es kann. Für die Probenarbeit sind Werke mit Elektronik ziemlich unpraktisch. Psychologisch ist das nicht gut für den Solisten, der das Werk in seinem eigenen Tempo und Gestus gestalten muss. Bei Elektronik gibt es so viel technisches Brimborium, das stört die Konzentration, insbesondere bei so einem Stück.

 

Nikodijević mit Ensemble & Elektronik live in der Cité de la Musique

 

Hatten Sie während des Kompositionsprozesses Kontakt mit Antoine Tamestit, was die Ausgestaltung des Soloparts angeht?

Ja, ich habe ihm immer wieder Teile der Partitur geschickt und gefragt, ob es ihm gefällt, ob es spielbar ist oder ob er mit dem Solopart über das Orchester dringen kann. Manchmal habe ich ihm zwei, drei Fassungen gezeigt und wollte wissen, was die beste Lage sei. Und wenn er mir bei den Proben sagen sollte, dass er noch gerne etwas ändern würde, ist das auch kein Problem: Ich bin da ein sehr flexibler Komponist. Man soll Spitzenmusikern vertrauen.

Sie vertrauen Ihren Interpreten ohnehin sehr, denn Sie lassen zunächst Klavier und Pianino, später auch Bläser und Streicher über einige Strecken zu vorgegebenen Patterns improvisieren …

Ich erwarte Konzentration und die Bereitschaft zuzuhören. Bei sehr guten Musikern kommt dabei ein ideales Ergebnis zustande, denn sie beherrschen ihr Metier. Vor allem bei den schwebenden Passagen in »Gospodi vozvah« habe ich lange überlegt, wie es am besten notiert werden sollte. Das ist ja wie im Nebel, man sieht nicht alles genau. Wenn man da die Musik übernotiert, klingt es starr. Deshalb habe ich mich an diesen Stellen für die Improvisation entschieden und gebe nur einzelne Intervalle und Töne vor, die dann frei fortgesetzt werden sollen.

Die ersten beiden Sätze des Konzerts sind sehr verhalten angelegt, bewegen sich weitgehend im Pianissimo-Bereich, aber im dritten Satz, der auch der längste ist, explodiert gegen Ende alles. Was geschieht da?

Es schien mir der zwangsläufige Weg der Gesangslinie in der Solobratsche zu sein: vom zurückhaltenden, verinnerlichten Gebet des Anfangs zum Aufschrei am Ende. Die Bratsche weint sehr viel in diesem Werk, das steht sogar in den Spielweisungen, etwa wenn es »pianto« heißt. Da spielt sie Glissandi auf einer leeren Saite, wehklagende Klänge. Und das steigert sich aus dem tiefsten Register der Bratsche in das höchste. Woran sich dann die von Ihnen erwähnte Orchesterexplosion anschließt.

Teodor Currentzis und das Symphonieorchester des SWR haben 2020 bereits Ihre Trauermusik »La lugubre gondola« aufgeführt. War das der Ausgangspunkt für den Auftrag zum Violakonzert?

Teodor hat schon mehrere Werke von mir dirigiert. Soweit ich weiß, hat er Antoine Tamestit mein Klavierkonzert geschickt und angeregt, dass ich doch ein schönes Werk für Solobratsche und Orchester schreiben könnte. Und jetzt werden wir bald erfahren, ob er recht mit dieser Vermutung hatte …

 

Interview: Susanne Stähr

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