Julia Bullock

Interview mit Julia Bullock

»Dunkelheit kann faszinierend sein« – die amerikanische Sängerin über Olivier Messiaens Liebesliederzyklus »Harawi«, ihren musikalischen Erkenntnismoment und die Veränderung ihrer Stimme.

Es ist fast zehn Jahre her, dass der Regisseur Peter Sellars mit einer eigenen Fassung von Henry Purcells unvollendet gebliebener Semi-Opera »The Indian Queen« (1695) für Furore gesorgt hat. In einer opulent-sinnlichen Ausstattung ging es bei ihm weniger um historische Figuren als um brandaktuelle Themen von der europäischen Kolonialgeschichte bis hin zur gesellschaftlichen Rolle der Frau. Mit dabei war auch die Sängerin Julia Bullock, damals noch ein bisschen unter dem Radar, am Anfang ihrer Karriere, in der sie mittlerweile etliche Stufen weiter nach oben geklettert ist.

Besondere Projekte wie »The Indian Queen« sind längst zu einem Markenzeichen dieser so versatilen Künstlerin geworden. Erneut mit Peter Sellars hat sie erst kürzlich »Perle Noire: Meditations for Joséphine« entwickelt, eine Hommage an die legendäre Josephine Baker; für Aufsehen sorgte auch die Saisoneröffnung der New Yorker Met 2021 mit der Oper »Fire Shut Up In My Bones« von Terence Blanchard, in der es um Polizeigewalt und Schwarze Menschen ging. Doch auch im traditionellen Repertoire fühlt sich Bullock zu Hause, sie singt Händel und Mozart, dazu viel Zeitgenössisches. Eine besondere Beziehung verbindet sie hier mit John Adams, der ihr in seiner Oper »Girls Of The Golden West« 2017 eine Partie auf den Leib schneiderte.

Repräsentantin des Wandels

Auch abseits der Bühne ist Julia Bullock eine engagierte Künstlerin, sie organisiert Benefiz- und Education-Konzerte, setzt sich immer wieder für soziale Projekte und die Chancengleichheit für Frauen und Schwarze im Kulturbetrieb ein. »Jung, höchst erfolgreich und politisch engagiert«, war über sie in »Vanity Fair« zu lesen; vom Magazin »Musical America« wurde sie 2021 zur Künstlerin des Jahres gewählt und als »Repräsentantin des Wandels« ausgezeichnet. 1987 in Saint Louis, Missouri, geboren, ging sie nach Zwischenstationen an der Eastman School of Music und am Bard College an die berühmte Kaderschmiede der Juilliard School.

Dort lernte sie auch ihren Ehemann, den Dirigenten Christian Reif kennen, mit dem sie seit einiger Zeit in München lebt. Ende des vergangenen Jahres wurde sie Mutter – und schon wenige Wochen später gab sie beim Silvesterkonzert ihr Debüt in der Elbphilharmonie, mit Songs von George Gershwin und seiner Zeitgenossin, der Schwarzen Komponistin Margaret Bonds.

Interview

Wie war’s denn an Silvester in der Elbphilharmonie?

Das war auf ganz unterschiedlichen Ebenen eine besondere Erfahrung. Zum einen, weil ich nach langer Zeit wieder mit Alan Gilbert arbeiten konnte. Nach dem Konzert bin ich in mein Hotel gegangen, das im gleichen Gebäude ist, und habe auf dem Weg dorthin Menschen aus dem Publikum getroffen. Dieser Austausch zwischen Künstlern und Konzertbesuchern ist sozusagen als DNA in die offene und fließende Architektur des Hauses eingeschrieben. Außerdem ist es eine spektakuläre Architektur, sie beflügelt unsere Fantasie und Vorstellungskraft.


Kurz zuvor sind Sie nicht nur zum ersten Mal Mutter geworden, sondern haben auch Ihr Debüt auf CD gegeben, mit dem Solo-Album »Walking In The Dark«. Der Titel klingt ganz schön düster, oder?

Für mich ist Dunkelheit nicht nur etwas Schlechtes. Dunkelheit kann auch faszinierend sein, geheimnisvoll, ein Ort der Ruhe und Stille, ein Ort der Kontemplation, an dem wir zu uns selbst finden können. In unserer Wahrnehmung wird Licht immer als etwas Positives wahrgenommen, während Dunkelheit meist negativ konnotiert ist. Dieser Projektion stimme ich aber nicht zu.

Julia Bullock: »Walking in the Dark«

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»Walking in the Dark«
»Walking in the Dark« »Walking in the Dark«

Erstaunlich ist die Vielfalt der Genres auf dem Album, es gibt Jazz, Blues, Spirituals und klassische Stücke. Betrachten Sie sich überhaupt als klassische Sängerin?

Ich sehe mich definitiv als klassische Sängerin. Allerdings würde ich mich nicht mehr unbedingt als Sopranistin bezeichnen. In der Oper singe ich zwar überwiegend das Repertoire für dieses Stimmfach. Aber wenn es um Recitals geht, fühle ich mich freier, da programmiere ich Stücke, zu denen ich mich hingezogen fühle, deren Temperament ich auf der Bühne gerecht werden kann. Dabei geht es mir nicht darum, bewusst Barrieren zu durchbrechen oder unkonventionell zu sein. Ich folge einfach meiner Liebe zum Gesang und möchte sie mit dem Publikum teilen.


Wenn klassische Sänger nichtklassisches Repertoire singen, hört man die klassische Stimme oft heraus. Bei Ihnen ist das nicht der Fall. Wie machen Sie das?

Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht nur mit klassischer  Musik aufgewachsen bin. Ich versuche einfach, meine Art zu singen dem jeweiligen Repertoire anzupassen. Das ist doch das Schöne am Gesang, dass die menschliche Stimme in der Lage ist, sich auf so viele verschiedene Arten auszudrücken. Seit ich Mutter bin, hat meine Stimme auch eine größere Leichtigkeit und Direktheit, was ich sehr genieße.
 

Auch andere Sängerinnen erzählen, dass sich die Stimme nach einer Geburt verändert. Anita Ratschwelischwili zum Beispiel musste erst wieder die richtige »Position« für die Stimme im Körper finden. Wie war das bei Ihnen?

Seit der Geburt fühle ich mich noch wohler in meinem Körper, spüre eine stärkere Verbindung von Körper und Geist. Ich habe mich selbst dadurch besser kennengelernt. Außerdem habe ich nicht mehr so sehr das Gefühl, dass ich mich beweisen muss. Klar möchte ich meine Stimme weiterentwickeln. Eben weil ich mich so wohl in meinem Körper fühle, habe ich gerade das Gefühl, dass die Kanäle dafür offen sind. Schauen wir mal, wo das hinführt.

Julia Bullock in der Elbphilharmonie, 2022 Julia Bullock in der Elbphilharmonie, 2022 © Daniel Dittus

»Ich folge einfach meiner Liebe zum Gesang und möchte sie mit dem Publikum teilen.«

Woher kommt Ihre Liebe zum Gesang, von der Sie eben gesprochen haben?

Ich singe schon, solange ich mich erinnern kann. Für mich war es das Natürlichste auf der Welt, mich selbst und meine Gefühle durch Musik auszudrücken. Keine Ahnung, woher genau das kommt. Vielleicht, weil ich schon als Kind ständig von Musik umgeben war. Mein Vater hatte eine schöne Stimme, und auch meine Mutter hat uns oft vorgesungen. Bis heute liebe ich es auch, anderen Sängern und Sängerinnen zuzuhören. Musik hat mein Leben so unglaublich bereichert. Daher ist es für mich etwas Besonderes, das heute mit meinem Publikum teilen zu können.
 

Welche Kolleginnen hören Sie besonders gern?

Oh mein Gott, wo soll ich da nur anfangen? Die Folk-Sängerinnen Judy Colins und Joni Mitchell, im Jazz vor allem Nina Simone und Billie Holiday. Außerdem liebe ich Jimi Hendrix und Pink Floyd. Und eines der ersten Konzerte, das ich besucht habe, war von Tina Turner. Es gibt einfach so viele Musikerinnen und Musiker, die mich inspiriert haben! Aber wenn wir von klassischen Sängerinnen sprechen, dann ist es zum Beispiel Régine Crespin. Es gibt ein Album aus den Sechzigerjahren, auf dem sie Lieder von Berlioz, Ravel und Poulenc singt – das hat meine Welt nachhaltig erschüttert. Oder Edita Gruberová mit ihrer unübertroffenen Interpretation der »Glöckchenarie« aus Delibes’ »Lakmé«. Dann sind da noch Frederica von Stade, Renée Fleming, Kiri Te Kanawa, Janet Baker und Lorraine Hunt Lieberson.
 

Lorraine Hunt Lieberson wird von vielen Sängerinnen immer wieder als Vorbild genannt, dabei war sie in Europa kaum bekannt. Bejun Mehta hat mir einmal gesagt, dass man in ihrer Interpretation von »As With Rosy Steps The Morn« aus Händels »Theodora« hören könne, worum es im Gesang eigentlich geht: um Wahrhaftigkeit.

Recht hat er! Eben diese Produktion von »Theodora«, 2004 von Peter Sellars inszeniert, war eine der ersten szenischen Aufführungen von klassischer Musik, die ich gesehen habe. Als Lorraine Hunt Lieberson die Szene betrat, hat das mein Leben verändert, weil ich auf einmal wusste, was in dieser Kunstform möglich ist.

Lorraine Hunt Liebersen in Glyndebourne (2004)

Über Olivier Messiaens »Harawi«

Kommen wir noch einmal zurück zum Thema Dunkelheit, denn das spielt auch bei ihrem nächsten Auftritt in der Elbphilharmonie eine Rolle. Da werden Sie im Mai 2023 den 1945 entstandenen Liederzyklus »Harawi« von Olivier Messiaen singen, der mit dem Lied »Dans le noir« (»In der Dunkelheit«) endet. Was bedeutet Ihnen das Werk?

Ich erinnere mich, dass ich sehr stark auf die Musik reagiert habe, als ich den Zyklus zum ersten Mal hörte. Auch die kraft- und wirkungsvolle Poesie der Worte schlug mich direkt in Bann. Irgendwie fühlte ich mich berufen, das selbst zu singen – wartete aber noch auf den richtigen Moment. Meine Idee war es zunächst, die Lieder auf zwei Sänger und sogar zwei Pianisten zu verteilen, denn es geht darin um verschiedene Dualitäten, zwischen Mann und Frau, Natur und Kosmos, Liebe und Verlust.
 

In Hamburg singen Sie den Zyklus nun aber allein. Warum?

Weil ich als Künstlerin gereift bin, fühle ich mich dem nun auch alleine gewachsen. Dennoch greifen wir das Thema der Dualitäten auf, wenn auch anders, nämlich in der Verbindung mit Tanz. Messiaen hat sich in »Harawi« von der traditionellen Musik der Anden inspirieren lassen – und der Tanz ist Teil der Tradition dieser Lieder. Als Gegenparts zu mir als Sängerin und dem Pianisten wird es daher auf der Bühne einen Tänzer und eine Tänzerin geben. »Gesang über Liebe und Tod« lautet der Untertitel zu »Harawi«.


Um welche Art von Liebe geht es da?

Messiaen selbst war damals in einer persönlich schwierigen Lage. Seine erste Frau, Claire Delbos, litt an einer Nervenkrankheit und musste in einer Anstalt betreut werden. Als sie immer weniger ansprechbar wurde, verliebte sich Messiaen in eine andere Frau, Yvonne Loriod, die er später auch geheiratet hat. Das spiegelt sich für mich in »Harawi«: Es ist, als würde man sich von jemandem verabschieden, mit dem man eine tiefe Verbindung hatte, und gleichzeitig beginnt etwas Neues. Es sind also fünfzig Minuten Musik, um sich zu verabschieden und eine neue Liebe willkommen zu heißen. Es ist wie ein Liebesbrief von Messiaen an seine beiden außergewöhnlichen Partnerinnen. Und ich hoffe, dass die Verbindung von Musik und Bewegung hilft, diese Geschichte erfahrbar zu machen.

Julia Bullock Julia Bullock © Allison Michael Orenstein

»Dieser Zyklus sind fünfzig Minuten Musik, um sich zu verabschieden und eine neue Liebe willkommen zu heißen.«

»Harawi« hat einen ethnischen Hintergrund, ähnlich wie das bei Purcells »Indian Queen« der Fall ist, die Sie einst mit Peter Sellars auf die Bühne gebracht haben. Suchen Sie sich solche Projekte bewusst aus, oder werden Sie dafür eher angefragt?

Vermutlich spielt beides eine Rolle. Klar, aufgrund meines Aussehens, meiner Herkunft und ethnischen Zugehörigkeit werde ich gebeten, an bestimmten Projekten mitzuwirken. Als Künstlerin fühlte ich mich allerdings einem bestimmten Repertoire und dessen Geschichten angezogen. Im Fall von »Harawi« wusste ich zunächst nichts über die Tradition, mit der es verbunden ist – und trotzdem fühlte ich mich sofort zu diesem Material hingezogen und wusste, dass ich es singen möchte. Die Frage von kultureller Aneignung schwingt latent natürlich oft mit. Darauf kann ich aber keine Antwort geben. Als Künstlerin sehe ich meine Aufgabe vielmehr darin, Fragen zu stellen und mir genau zu überlegen, warum ich etwas auf die Bühne bringen möchte.
 

Trailer: »The Indian Queen« an der English National Opera (2015)


In der letzten Spielzeit hatten Sie einen großen Erfolg in Terence Blanchards Oper »Fire Shut Up In My Bones«, in der es um das Leben Schwarzer Menschen und Polizeigewalt in den USA geht. Fühlen Sie eine besondere Verpflichtung bei Werken mit einer solchen Thematik?

Fühle ich mich verantwortlich? Nein! Ich mag es überhaupt nicht, wenn ich von anderen positioniert oder für eine Sache vereinnahmt werde. Ich fühle mich eher berufen, manche Dinge zu singen. Wenn das nicht so ist, lasse ich die Finger davon. Wenn ich mich für ein Projekt entscheide, ist es mir vor allem wichtig, dass jeder im Team die Arbeit ernst nimmt. Denn die Zeit, die wir auf der Bühne verbringen, ist einzigartig und kostbar. Und ich habe das Gefühl, dass es eine gute Gelegenheit für uns ist, einzuüben, wie wir am besten miteinander umgehen: mit gegenseitigem Respekt, mit Ehrlichkeit, Offenheit und Verantwortlichkeit. Wenn diese Grenzen überschritten werden, kann ich das nicht tolerieren.


In der letzten Zeit sind gleich einige Alben Schwarzer Opernsängerinnen erschienen, von Golda Schultz, Jeannine De Bique, Pene Pati. Wie nehmen Sie, als Teil dieser Gemeinschaft, diese Entwicklung wahr?

Alle Sängerinnen und Sänger, die ich verehre, haben eine Aufnahmegeschichte und sind damit zu einem Teil der Gesangsgeschichte geworden, die für die Nachwelt konserviert wurde. Meine ersten Begegnungen mit klassischem Gesang fanden durch Aufnahmen statt. Natürlich freue ich mich, dass ich, dass wir nun auch ein Teil dieser Geschichte werden. Nicht zuletzt weil die von Ihnen erwähnten Künstlerinnen Freundinnen von mir sind.


Woher kommt eigentlich Ihr starkes soziales Engagement?

Das hängt vermutlich mit meiner Biografie zusammen, denn meine Eltern waren sozial engagierte Menschen. Sie wollten immer, dass wir uns bewusst sind, was in der Welt vor sich geht und wie wir damit umgehen. Manchmal passieren Dinge, zu denen ich nicht schweigen möchte. Zum Glück lebe ich in einer Zeit und an einem Ort, an dem ich frei sagen kann, was ich denke. Aber es gibt derzeit viele Künstler und Menschen, die darum kämpfen müssen, öffentlich ihre Meinung zu äußern. Solange ich eine Gelegenheit dazu habe, werde ich es tun.


Sie leben mit Ihrem Mann und dem Baby in München. Warum dort und nicht in den USA?

Der Umzug nach Deutschland war zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass wir etwas verändern wollten. Ich war bereit, New York zu verlassen. Das hat auch etwas mit den aktuellen Verhältnissen in Amerika zu tun: mit den Waffengesetzen, der mangelnden Gesundheitsfürsorge, ganz allgemein mit dem Sozialsystem. Das ist wie ein politischer Wrestling-Kampf, in dem das Recht des Stärkeren gilt, ein echter Mangel an Rücksichtnahme auf die Menschen, die dort leben. All das sind Realitäten, die ich selbst beobachten konnte. Für mein Kind wünsche ich mir aber einen Ort, an dem es sich wohlfühlen kann und nicht in ständiger Sorge leben muss.


Interview: Bjørn Woll, Stand: März 2023

Dieses Interview erscheint im Elbphilharmonie Magazin (2/23)

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