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Franziskanisches Mysterienspiel

Kent Nagano über »Saint François d’Assise«, das einzigartige Mysterienspiel seines Lehrers und Freundes Olivier Messiaen.

Es hätte Olivier Messiaen – diesem frommen, bescheidenen, von Arroganz und Allüren freien, weltberühmten Komponisten – sehr gefallen, dass sich der Jesuit Jorge Mario Bergoglio im März 2013 nach seiner Wahl zum Papst den Namen Franziskus gab. Der Ordensbegründer Franziskus ist eine mit einem heutigen Begriff nicht anders als disruptiv zu nennende Gestalt aus der Kirchen- und Kulturgeschichte des Mittelalters, und war auch die wichtigste Figur auf dem gedachten Altar Messiaens. Wie Franziskus, der zu ihnen predigte, liebte Messiaen die Vögel. Er notierte ihre Rufe und Gesänge, wo er ging und stand, und machte ihre hartnäckige Himmelsmusik zum integralen Bestandteil seines kompositorischen Schaffens.

Nahezu zeitlebens versah er treu seinen Dienst im Schoße der Kirche und begleitete 60 Jahre lang, bis zu­ seinem Tod 1992, als Organist in der recht schmucklosen Stadtkirche La Trinité in Paris die sonntägliche Messe durch seine Improvisationen. Sein ungemein kohärentes Werk krönte Messiaen 1983 nach langen Geburtswehen schließlich mit einer Oper, die dem heiligen Kirchenrebellen aus Umbrien ein musikalisches Denkmal in irisierenden Farben setzt: »Saint François d’Assise«.

Olivier Messiaen und Kent Nagano bei einer Probe in Utrecht, 1986
Olivier Messiaen und Kent Nagano bei einer Probe in Utrecht, 1986 © Co Broerse

Kent Nagano bei Olivier Messiaen

Die Aufführung des »Saint François d'Assise« stand auf dem Programm des Internationalen Musikfests 2020. Damals fiel die gesamte Veranstaltung Corona zum Opfer. Nun bildet Messiaens große Oper einen der Höhepunkte des Internationalen Musikfests Hamburg 2024. Am Pult steht Kent Nagano, Hamburgischer Generalmusikdirektor, Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg seit 2015 und weltweit einer der besten Kenner von Messiaens Werk. Nagano hat den »Saint François« während seiner Zeit an der Bayerischen Staatsoper 2011 vor Hermann Nitschs bluttriefender Inszenierung gerettet, zumindest musikalisch. Er hat 1998 in Salzburg die Wiederaufnahme der bemerkenswerten Produktion des amerikanischen Regisseurs Peter Sellars aus dem Jahr 1992 geleitet, außerdem etliche weitere konzertante oder semikonzertante Wiedergaben der »Franziskanischen Szenen in drei Akten und acht Bildern«.

Vor allem aber lebte Nagano 1983 fast ein Jahr lang mit Messiaen und dessen Frau Yvonne Loriod unter einem Dach, um die Uraufführung des »Saint François« an der Opéra de Paris im Palais Garnier vorbereiten zu helfen. Als Nagano im Winter 1982/83 auf Messiaens Einladung hin in Paris ankam, war er 31 Jahre alt und hatte zum ersten Mal in seinem Leben die USA verlassen. Zu gleichen Teilen verwundert, fremd und begeistert fand er sich umgeben von der ihm neuen Sprache und der Lebendigkeit rund ums Rotlicht- und Vergnügungsviertel Pigalle, wo Messiaen lebte, vor allem aber berauscht von der europäischen Kultur, nach der er sich seit seinen Kindertagen im kalifornischen Kaff Morro Bay sehnte und die er bei Messiaen nun in einer Art permanenter Druckbetankung in sich aufnahm.

»Messiaen hat mich in seinen Bann gezogen«

Bereits als junger Kompositionsstudent und Dirigent war Nagano mit Messiaens Musik in Berührung gekommen. Doch so besonders er sie fand – sie blieb ihm ein Rätsel. Während eines Jobs als Assistenzdirigent stieß er auf die Noten zu Messiaens »Catalogue d'oiseaux«, eine Sammlung komponierter Vogelgesänge, und fräste sich Seite um Seite tiefer in die komplexe Tonsprache hinein: »Plötzlich wollte ich Messiaen unbedingt verstehen«, schreibt Nagano in seinem Buch »Erwarten Sie Wunder!«. »Ich wollte seine musikalische Sprache durchdringen, die andere Rhythmik und die vollkommene Polyphonie. Messiaen hatte mich, ohne dass es mir damals schon so richtig bewusst war, in seinen Bann gezogen.«

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft

Als Musikdirektor des Berkeley Symphony Orchestra setzte sich Nagano 1978 in den Kopf, Messiaens bekannteste Werke in einem Zyklus aufzuführen. Weil er trotz aller musikalischen Analysen keine Vorstellung davon hatte, wie die Musik eigentlich klingen sollte, schickte er dem Komponisten eine Radioaufnahme von einem der Konzerte. Und der Meister aus dem fernen Paris gab ihm Antwort – detailliert, instruktiv, unterstützend. Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Als Nagano in demselben Jahr in Berkeley »La Transfiguration de Notre Seigneur Jésus-Christ« aufs Programm setzte, reiste Messiaen mit seiner Frau Yvonne Loriod in die USA, um der Aufführung, bei der sie den Klavierpart übernahm, beizuwohnen.

Olivier Messiaen
Olivier Messiaen © Wikimedia Commons

Eine einzige Oper

Schon damals schlug sich Messiaen mit einem Opernauftrag herum, den ihm Rolf Liebermann, damals für kurze Zeit Intendant an der Pariser Oper, 1977 erteilt hatte. Dem passionierten Kirchenmusiker, Klang-Ornithologen und ungemein kompetenten Kompositionslehrer, zu dessen Schülern Pierre Boulez ebenso zählte wie Karlheinz Stockhausen, Iannis Xenakis oder George Benjamin, lag die Welt der Oper fern.

Zudem lastete die Geschichte der Gattung schwer auf ihm: »Er hat über die Verismo-Schule nachgedacht, über Mozart, über Berlioz«, erinnert sich Nagano. »Mit dem übergroßen Gewicht der Opernvergangenheit, mit der Vielfalt des Musiktheaters hat er sich beschäftigt, mit ›Wozzeck‹ und ›Fidelio‹ beispielsweise. Acht Jahre lang hat er gesucht und nicht gefunden, was ihn als Oper reizen könnte. Seine Lösung war schließlich, die Oper neu und anders zu denken, also als seinen ganz eigenen Kosmos zu kreieren, statt sich ihrer Form anzupassen.«

Mehr als eine Biographie

Das Libretto verfasste Messiaen selbst, im Rückgriff auf eine frühe Biografie des Heiligen Franziskus und auf die »Fioretti«, ein erbauliches Kompendium von Legenden über ihn aus dem 14. Jahrhundert. Und schrieb doch alles andere als ein Bio-Pic für die Opernbühne: »Ich liebe es, die Freiheit zu haben, dass ich nicht Franziskus’ Leben auf die Bühne bringen muss«, bekannte Peter Sellars, der 1992 in der Felsenreitschule mit seiner Lesart des »Saint François« bei den Salzburger Festspielen debütierte. »Wie wunderbar, dass Messiaen kein dokumentarisches Interesse in dieser Oper verfolgt. Ihn hat interessiert, was das Leben des Heiligen Franziskus bedeutete, für Franziskus selbst und für uns. Das ist viel wichtiger als die Frage, ob dieser Baum noch so aussieht wie damals oder ob jener Vogel der war, den Franziskus gehört hat. Natürlich nicht! Sie dürfen davon ausgehen, dass das Rotkehlchen, das Franziskus hörte, ganz anders klang als Messiaens Orchester.«

Franziskus’ Vogelpredigt auf einem Fresko von Giotto di Bondone (um 1295)
Franziskus’ Vogelpredigt auf einem Fresko von Giotto di Bondone (um 1295) © Wikimedia Commons

Rund 120 Musiker:innen, drei Ondes Martenot, großer Chor und – mit Ausnahme des Engels – als Solisten nur Männer auf der Bühne: Es heißt, Messiaen habe aus Angst vor einem sonst wohl unvermeidlichen Liebesduett die Heilige Clara unterschlagen, die zeitweilige Weggefährtin des Franziskus, die wie er ihrer noblen Herkunft entsagte und inspiriert von ihm den Clarissen-Orden begründete. Dafür gibt Messiaen dem mit einem Sopran besetzten Engel fortlaufend Überirdisches in oft recht hoher Stimmlage zu singen.

Das Stück ist ein Solitär auf der Opernbühne. Nagano spricht lieber von einem »Spektakel«, doch das Wort ist im Deutschen irreführend, weil es zuerst an Augenfutter für Sensationsgierige denken lässt. Das französische spectacle meint eigentlich nicht mehr als ein Schauspiel, ein Geschehen, das mit den Augen angeschaut werden kann. »Das Spektakel etwa zur Zeit von Berlioz, auf das Messiaen sich auch bezog, war nicht wirklich ein Oratorium, nicht wirklich Oper, nicht wirklich sinfonisch, sondern eben – ein Spektakel«, erklärt Nagano. Messiaen holt in diesem Werk mit seinen statischen, vielfach aus Vogelstimmen extrahierten Block-Elementen, mit den herrlich strahlkräftigen Melodien und den für ihn typischen Klangfarben der Orchestrierung das Numinose, das Mysterium, die spirituelle Sphäre ins Diesseits.

Nagano dirigiert »Saint François d’Assise«

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Kent Nagano
Kent Nagano Kent Nagano © Felix Broede

Wenn der Engel erscheint

Was die Inszenierung betrifft, »war Messiaens Ideal stark beeinflusst von den Giotto-Fresken in Assisi, mittelalterlich, flach, deutliche Farben – das hat ihn sehr inspiriert«, sagt Nagano. »Wenn der Engel erscheint, wollte er die Giotto-Farben in den Flügeln sehen. Für einen zeitgenössischen Regisseur ist es nicht einfach, das so zu realisieren.« Tatsächlich steht jeder Regisseur vor der eigentlich unlösbaren Aufgabe, das Unsagbare unsagbar bleiben zu lassen, es dennoch zu zeigen und für die Zuschauer irgendwie nutzbar zu machen. »Denn wenn die spirituellen Wahrheiten bloß Metapher bleiben«, sagt Sellars, »dann tun wir dem Leben des Heiligen Franziskus Unrecht. Das gewaltig Neue für ihn war ja, dass das Leben Christi eben nicht metaphorisch zu verstehen sei, sondern im eigenen Leib nachgelebt werden muss. Nicht als etwas, das man kennt, sondern als etwas, das man fühlt und lebt.«

Nagano vertraut darauf, dass Staatsopern-Intendant Georges Delnon, der die szenische Einrichtung des »Saint François d’Assise« übernommen hat, »sehr interessante Ideen dazu hat, weil er das französische Spectacle aus seiner persönlichen Geschichte heraus versteht.« Er rechnet mit einer Bühnenversion, die Messiaens Ästhetik gerecht wird: »Das hat nichts mit rückwärtsgewandtem oder progressivem Denken zu tun, es geht einfach um eine bestimmte Ästhetik, die eine bestimme Sensibilität braucht. In diesem Stück muss Raum sein für Spiritualität, es darf nicht so hart definiert sein, dass da kein Mysterium mehr bleibt. François selbst lässt ja auch Raum für psychologische Entwicklung. Er ist am Ende ein anderer, als er am Anfang war.«

Wer Nagano reden hört, spürt: Nach Yvonne Loriods Tod vor zehn Jahren kommt nun ihm die Rolle als nächster Sachwalter der Ästhetik Olivier Messiaens zu, jenes Mannes, den er seinen »kulturellen Vater« nennt und den er in der gemeinsamen Zeit in Paris stets mit »Maître« ansprach. Er hat mit ihm alltäglich gelebt und zu Abend gegessen, ganz bescheiden und einfach in der Küche – Gerichte, die Frau Loriod gekocht hatte. Im Wohnzimmer verbrachte Nagano unzählige Stunden mit Messiaen im Gespräch über Musik, Philosophie, Ästhetik. Einmal analysierte ihm der Professor vier Stunden lang den »Parsifal« am Klavier. Bei Loriod hatte er täglich Klavierstunde. Nur einmal in diesem intensiven und für ihn unvergesslichen Jahr überschritt Nagano im Überschwang einer vertraulichen Situation die Grenze dessen, was sich schickte. In einer Bemerkung ließ er die formelle Anrede außer Acht und duzte den Maître unbedacht. »Sofort fuhr mir Yvonne Loriod dazwischen und sagte scharf: Vous!«

 

Artikel: Tom R. Schulz; Stand: April 2020
Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (2/20)

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