Angélique Kido und Alexandre Tharaud

»Die ganze Welt in einer Stimme«

Der französische Pianist Alexandre Tharaud über seine Zusammenarbeit mit Angélique Kidjo und ihre gemeinsame Leidenschaft für Chansons.

»In Angélique Kidjos Stimme scheint die ganze Welt zu stecken. Sie versammelt die Völker in ihrem Gesang«, schwärmt der Pianist Alexandre Tharaud. Seit 2020 arbeitet er mit der afrikanischen Sängerin zusammen. Selbst wenn ihre Kombination auf den ersten Blick überraschen mag, so sind sie doch ein künstlerisches Match made in Heaven. Im Jahr 2020 begegneten sich die beiden zum ersten Mal – im Rahmen eines von Kidjo gestalteten Programms namens »An African Odyssey« in Paris. Sie spielten zwei Songs von Barbara und Charles Aznavour und verstanden sich auf Anhieb.

Und so überrascht es nicht, dass Alexandre Tharaud im März 2023 auch bei Angélique Kidjos »Reflektor«-Festival in der Elbphilharmonie nicht fehlen darf. Ihr gemeinsames Chansons-Projekt »Les mots d’amour« ist gewiss einer der Geheimtipps des prallen »Reflektor«-Programms – eine seltene Chance, die große Pop-Künstlerin einmal im intimen Setting eines Liederabends zu erleben. »Sie selbst hat große Lust dazu. Angélique singt ja fast täglich auf Riesenbühnen vor Tausenden von Leuten. Wenn wir zusammen Konzerte geben, vergewissert sie sich ihrer inneren Mitte«, meint Tharaud, der sich als einer der feinsinnigsten Pianisten der Gegenwart auch in Hamburg ein treues Publikum erspielt hat. Im Interview spricht er über die Zusammenarbeit mit Kidjo, über seine Liebe zu Chansons und darüber, warum es manchmal wichtig ist, die Kontrolle aufzugeben. 

Interview

Angélique Kidjo und Sie nennen ihr gemeinsames Programm »Les mots d’amour« und nicht »Chansons d’amour«. Was steckt hinter diesem Titel?

Wir sind eben von den Worten ausgegangen, nicht von der Musik. Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, sagte mir Angélique Kidjo, dass sie gern über die Liebe singen würde, weil sie das sonst in ihren Liedern kaum täte, und zwar auf Französisch, weil sie auch das sonst nie macht. Daraufhin habe ich ihr haufenweise Songs vorgeschlagen. Und nach und nach, unter Anwendung mehrerer Filter, kamen wir schließlich auf eine Liste für ein Konzert. Das werden so 18 Chansons gewesen sein.

Angélique wollte auf intelligente Art über die Liebe sprechen, und wenn man auf solche Weise über die Liebe spricht, dann geht es zwangsläufig auch um Trennung, um die Liebe zwischen Eltern und Kindern, um homosexuelle Liebe, bestialische Liebe, die Amour fou, die erste Liebe. Die Lieder, für die wir uns schließlich entschieden, sind ausnahmslos Meisterwerke und alle aus Frankreich. Teils weltbekannte Chansons, aber auch weniger verbreitete. Das ergibt zusammengenommen eine sehr schöne Reise. Denn spricht man unter all diesen Aspekten von Liebe, dann spricht man vom ganzen Leben.

Alexandre Tharaud Alexandre Tharaud © Laure Bernard

»Angélique Kidjo ist zu einer Ikone des Friedens geworden.«

Spielt auch eine Rolle, dass die Ursprünge der Autorinnen und Autoren all der Lieder, die Sie singen und spielen werden, möglicherweise recht divers sind, also ihrerseits unterschiedliche Kulturen abbilden?

Ja. Wir haben zum Beispiel ein Chanson von Pierre Lapointe, einem außerordentlichen kanadischen Singer-Songwriter, oder von Josephine Baker, die zwar die französische Staatsbürgerschaft besaß, ihrer Herkunft nach aber Amerikanerin war. Ich weiß nicht, ob man sie in Deutschland kennt. In Frankreich war sie sehr wichtig. Sie ist im Sommer 2021 ins Panthéon aufgenommen worden, die nationale Ruhmeshalle in Paris.

In Deutschland ist die bekannteste Vertreterin des französischen Chansons wahrscheinlich Edith Piaf. Was bei ihr so besonders ist – ähnlich wie bei Angelique Kidjo: Ihre Stimme kommt von sehr weit her. Was mich bei Angéliques Stimme so begeistert und fasziniert, ist, dass in ihr die ganze Welt zu stecken scheint. Sie versammelt die Völker in ihrem Gesang – allein schon die drei Kontinente Afrika, Amerika und Europa. Und sie ist zu einer Ikone des Friedens geworden. Sie sagt mir manchmal, dass ihre Stimme mehrere Generationen umfasse, dass da nicht nur sie sänge, wenn sie singt. Da ist ein innerer Schrei, und diesen inneren Schrei höre ich auch bei Edith Piaf. Der ist universell. Selbst wenn man nicht versteht, was sie singt: Dieser innere Schrei kommt trotzdem beim Zuhörer an.

Alexandre Tharaud & Angélique Kidjo: »La Foule« (Edith Piaf)

Nun kennt man Angélique Kidjo von ihren großen Auftritten mit Bands, auch mit Orchester. Dieser Chanson-Abend bietet ein viel intimeres Format. Wie funktioniert das?

Sie hat große Lust dazu. Angélique singt ja fast täglich auf Riesenbühnen vor Tausenden von Leuten. Ich glaube, sie geht damit auch an eine Quelle – der Meditation, möglicherweise. Wenn wir zusammen Konzerte geben, vergewissert sie sich ihrer inneren Mitte. Plötzlich ist alles ganz einfach, die Energie scheint wie kanalisiert. Die Säle, in denen wir auftreten, sind viel kleiner, als sie es gewohnt ist. Ich habe festgestellt, dass viele Künstlerinnen und Künstler, die immer auf der großen Bühne stehen, irgendwann ein immenses Bedürfnis danach überkommt, in menschlichere Dimensionen zurückzukehren.
 

Angélique Kidjo
Angélique Kidjo © Fabrice Mabilot

Anders als Sänger:innen bei klassischen Liederabenden wird Angélique Kidjo verstärkt. Welche Auswirkungen hat das auf Ihr Klavierspiel?

Da das Klavier auch verstärkt wird, sind mir die Nuancen, die mir sonst alles sind, ziemlich egal. Ich kann also richtig auf die Tube drücken ohne Angst, lauter zu sein als Angélique, weil ja jemand am Mischpult genau das überwacht und eingreift, falls es dazu kommen sollte. Ich habe einen Monitor, weiß aber nicht, wie der Klang im Saal ist. Das ist sehr spannend, denn es ist das Gegenteil vom klassischen Konzert. Da ist man unentwegt auf der Suche danach, möglichst denselben Klang zu produzieren, den die Menschen im Saal vernehmen. Hier kann man es nicht wissen, es ist ein bisschen wie in einem Einweckglas. Das ist auch deshalb eine interessante Erfahrung, weil man sich als Pianist auf einmal überhaupt nicht mehr um die Klangqualität kümmert. Man ist dem Menschen ausgeliefert, der im Saal am Mischpult sitzt, und muss darauf vertrauen, dass er seine Sache gut macht.
 

Aber Sie geben doch die Kontrolle über den Klang nicht auf, nur weil Ihr Instrument verstärkt wird. Der Klang kommt doch in erster Linie aus ihren Fingern und aus dem Instrument.

Klar, es liegt viel am Instrument. Ich kann vorher angeben, welchen Steinway ich spielen möchte, je nach Saalgröße. Auf meinem Handy habe ich eine lange Liste mit den Seriennummern der Steinways und Yamahas, die ich überall auf der Welt gespielt habe. Und ja, ich kann es über den Monitor ein bisschen kontrollieren, aber der Klang ist auf jeden Fall anders, als er im Saal ankommt. Man muss dem Toningenieur vertrauen.


Gefällt Ihnen das, oder macht es Sie eher nervös?

Es ist ab und an wichtig, die Kontrolle aufzugeben. Als Klaviersolist hat man keine Wahl, man muss unentwegt selbst alles unter Kontrolle haben. Man reist allein, verbringt die Zeit allein in der Garderobe, allein im Hotel ... Da muss man dauernd alles kontrollieren – die Zeit, die Dinge, die morgen sein werden, in einem Monat, in fünf Jahren, in zehn Jahren. Man muss auf alles achten, enorm organisiert sein und sich konzentrieren, vor allem auf den Plan des jeweiligen Tages.

Wenn ich ein Solo-Rezital gebe, probe ich allein und muss mir vorstellen, wie es klingen wird, wenn Menschen im Saal sind. Und auch während des Konzerts steuert man alles selbst. Da interveniert niemand. Das hat Auswirkungen auf das Leben, das wir führen. Wir sind eine Sorte Mensch, die in Schwierigkeiten gerät, wenn sie nicht alles kontrollieren kann. In Erfahrungen wie diesen jetzt mit Angélique Kidjo geht es darum, den Klammergriff mal zu lockern und zuzulassen, dass andere sich um einen kümmern.

 

Alexandre Tharaud in der Elbphilharmonie, 2022 Alexandre Tharaud in der Elbphilharmonie, 2022 © Daniel Dittus

»Improvisieren heißt für einen Solisten auch loslassen. Das tut mir sehr gut.«

Liegt darin also auch eine gewisse Erleichterung?

Absolut. Ich gehe auf die Bühne und muss mir um den Klang keine Sorgen machen. Ich kann mich vollkommen auf das einlassen, was ich zu spielen habe – die eigenen Arrangements, und manches improvisiere ich. Improvisieren heißt für einen Solisten auch loslassen. Das tut mir sehr gut.
 

Sie sagten, sie hätten Angélique Kidjo haufenweise Songs vorgeschlagen. Wieso kennen Sie sich da so gut aus?

Ich bin seit meinen Kindertagen ein totaler Fan des französischen Chansons und mit dem Repertoire sehr vertraut. 2017 habe ich eine Hommage an die Sängerin Barbara aufgenommen, die mein großes Vorbild ist und übrigens mal ein ganzes Album auf Deutsch gemacht hat. Das hatte allerdings keinen Erfolg, weil sie nicht wirklich Deutsch konnte. Für mich ist Barbara die größte französische Sängerin aller Zeiten. Abgesehen von ihr liebe ich viele weitere französische Sänger. Die ganze Geschichte des französischen Chansons seit Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts ist so spannend, mit all den darin verpackten politischen Botschaften, insbesondere für die Frauen. Bis in die Nachkriegszeit hinein waren für die Sängerinnen die Chansons das Vehikel für vielerlei Botschaften.

Wenn es nach mir ginge, müsste das französische Chanson heiliggesprochen werden. Dabei gibt es nicht einmal ein Museum dafür in Paris. Eine Schande. In Japan gibt es eines.

 

Interview: Tom R. Schulz, September 2022

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