None

Der Traumtänzer

Geschichtenerzähler und Universalist: Über den österreichischen Ausnahmekünstler André Heller.

Text: Robert Rotifer, Stand: 2. November 2023

 

Wir leben in einer Zeit, in der die Versuchung groß ist, in allem das Letzte seiner Art zu erspähen. Die letzte urige Kneipe, den letzten Spatz der Nachbarschaft, die letzte Politikerin von echter Überzeugung und so weiter. André Heller ist auch so einer, dem man dieses Prädikat umhängen würde, und zwar gleich mehrfach: der letzte Geschichtenerzähler, der letzte Dandy, der letzte echte Universalist, der letzte große Selbsterfinder, der letzte lebende Draht zu einem verloschenen Wien.

Bis man versucht, die Gesamtheit seiner Vita zu erfassen, die waghalsigen Kunst- und Showprojekte, die Musik, die Bücher, die Gärten, die Schauspielerei, die Selbstinszenierung, die Politik, die Reisen, auch den Journalismus, alles jeweils bis zum äußersten Rand des Begriffs. Dann erst versteht man, dass die Kombination all jener Dinge sich realistisch eigentlich gar nicht ausgehen kann, und wenn überhaupt, dann nur in der surrealen, »wirklich ein Forellenkleid« tragenden Wirklichkeit dieser mittlerweile 76-jährigen Person.

Reflektor André Heller :16. – 24. März 2024

Unter dem Titel »Fremd in der Fremde« kuratiert André Heller ein spannendes Festival in der Elbphilharmonie – mit Musik aus unterschiedlichsten Richtungen und einem Einblick in die Welt des Varieté.

André Heller
André Heller © Stefan Liewehr

»Eine Legende geht auf Reisen«

Mehr als sechs Jahrzehnte ist es her, dass ein 14-jähriger André Heller mit einem Spazierstock mit Silberknauf das von altvorderen Literaten wie Heimito von Doderer, Hilde Spiel oder H. C. Artmann frequentierte Wiener Künstler-Café Hawelka betrat und sich dort als »Dichter« vorstellte.

Knapp 50 Jahre sind es, seit der indessen vom selbsterklärten Poeten zum Schauspieler, zum Radiostar, zum erfolgreichen Chansonnier gewandelte, immer noch in seinen mittleren Zwanzigern steckende Mann seine erste Deutschland-Tournee mit dem herrlich überheblichen Titel »Eine Legende geht auf Reisen« unternahm und dabei im Feuilleton bereits als »maliziöser Narziss« mystifiziert wurde.

»Feuertheater« in Lissabon und Berlin

40 Jahre, seit er mit seinem »Feuertheater« den Hafen von Lissabon vor offiziell geschätzten 900.000 Menschen zum Schauplatz eines gigantischen pyrotechnischen Experiments machte, das völlig außer Kontrolle, aber in diesem Scheitern erst recht zum Triumph geriet. Ein Jahr später sollte Heller das gleiche Spektakel vor dem damals noch hart an der deutsch-deutschen Grenze gelegenen Berliner Reichstag abhalten und durch seine Lichtskulpturen im Namen von Frieden und Ideenfreiheit metaphorisch den Mauerfall vorwegnehmen.

1985, noch ein Jahr darauf, brachte er mit seiner Show »Begnadete Körper« – ersonnen nach einer augenöffnenden Reise ins damals verschlossene China – die hohe Kunst der chinesischen Akrobatik nach Europa. Und nebenbei: Wenn wir heute über »kulturelle Aneignung« debattieren, dann tun wir das mit dem Luxus einer von Akten wie diesem erweiterten Weltsicht. Es war übrigens auch Hellers Idee, jene über Jahrzehnte hinweg erfolgreiche Show schließlich als »Chinesischer Nationalzirkus« selbständig zu machen.

»Feuertheater«
»Feuertheater« © André Heller

»Luna Luna« :Rummelplatz im Regen

Aber bleiben wir doch im Jahr 1985, denn irgendwie fand Heller noch während des Anlaufens von »Begnadete Körper« Zeit für erste Sondierungsgespräche mit den Pop-Art-Künstlern Roy Lichtenstein, David Hockney und Keith Haring über seine Idee eines großen Rummelplatzes der Kunst. Hier wiederum kommt die Stadt Hamburg als zentraler Schauplatz von Hellers Werk ins Spiel.

Nachdem er zwischenzeitlich unter anderem sein zwölftes Studio-Album »Narrenlieder«, seinen ersten Roman »Schattentaucher« veröffentlicht und als Gruß aus Wien fantastische Heißluftballon-Skulpturen über den Städten der Welt sowie den Niagarafällen schweben lassen hatte, stieg André Hellers Rummelplatz-Premiere nämlich 1987 ausgerechnet auf der Hamburger Moorweide unter dem klingenden Namen »Luna Luna«.

»Luna Luna« und weitere Projekte: Ein Rückblick

Lichtenstein gestaltete dafür ein Spiegelkabinett, Hockney einen »Wunderbaum«, Haring ein Karussell. Der in Deutschland noch weithin unbekannte Jean-Michél Basquiat dekorierte ein Riesenrad, Jörg Immendorff eine Schießbude, Daniel Spoerri die Toiletten, im »Palast der Winde« des Karikaturisten Manfred Deix wurden Furzkonzerte abgehalten. Und wo wir grade von Hellers Hang zu den Letzten ihrer Art sprachen: Der damals 94-jährige Art-déco-Grafiker Erté kreierte die Schaubude »Mysterium Cagliostro«, Salvador Dali, damals 83, erschuf einen Dom, und das Eingangstor folgte einem Entwurf von Sonia Delaunay, die Heller 1977 als 92-Jährige, zwei Jahre vor ihrem Tod kennengelernt hatte.

All diese Attraktionen und mehr wurden damals in Hamburg – pikanterweise finanziert von der Neuen Revue – unter freiem, manchmal verregnetem Himmel zur Volksbelustigung dargeboten. Nachdem die Kunstwerke über Dekaden in Containern schlummerten, soll »Luna Luna« übrigens demnächst in den USA eine Neuauflage erfahren, und zwar auf Initiative des Rappers Drake, der laut New York Times 100 Millionen Dollar in das Restaurationsprojekt investiert hat.

Das Handwerk des Kritikers

Damals dagegen musste sich Heller am Abend nach der Rummelplatz-Premiere in der NDR Talk Show vor dem Moderationsduo Wolf Schneider und Holde Heuer verantworten. Schneider hatte zu diesem Zweck einen Verriss des anti-elitären Kunstprojekts zum Verlesen vorbereitet, doch Heller kam ihm vor laufenden Kameras zuvor. »Eine schlechte Kritik ist erschienen in ganz Europa, eine einzige, in der Münchner Abendzeitung«, sagte er. »Wie ich hier herkomme, liegt die hier, gelb unterstrichen, denn er (deutet auf Schneider) wollte die schlechte Kritik vorlesen.«

Schneider: »Sie haben sie mir geklaut!«

Heller: »Ich hab sie ihm weggenommen natürlich. (Gelächter und Applaus) Hier ist sie! (wedelt mit dem Zeitungsausschnitt) Die schlechte Kritik der Münchner Abendzeitung«“

Schneider: »Das ist mein Eigentum!«

Heller: »In der Kritik steht, ich bin ›der schlechteste Künstler der Welt‹! Und das Wichtige ist daran, das muss ich auch sagen, das habe ich am Weg erfahren: Sie sind Ausbildner an einer Journalistenschule, nicht?«

Schneider (damals Leiter der Henri Nannen-Schule für Journalismus): »Ja?«

Heller: »Und sie bringen dort den jungen Journalisten bei, offensichtlich, wie man mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit umgeht. Aus 240 guten Kritiken sagen sie: ›Da ist mir keine drunter, die ich vorlese. Die schlechte hol’ ich mir.‹«

Heute würde André Heller wohl kaum mehr solch eine Einlage hinlegen, aber die Anekdote sagt doch einiges, nicht nur über sein Selbstverständnis, sondern auch seine zwischen Bewunderung und Feindseligkeit schwankende Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit. Man erkennt Hellers dünne Haut hinter seinem auftrumpfenden Exterieur. Kritische Anerkennung war ihm von Anfang an lebenswichtig, darin reflektiert sich schließlich seine kreative Hingabe. Denn bei all dem Heller oft unterstellten Kalkül ist er ein gänzlich unzynisch Schaffender.

Jenes Kalkül wiederum unterstellt man ihm nicht zuletzt, weil er nebenher eben nicht nur ein Künstler, sondern auch ein alter Medienprofi ist, der bei Bedarf spontan eine Talk-Show zu kapern versteht. Schließlich erreichte Heller seine erste Berühmtheit 1967 als äußerst meinungsstark moderierender DJ beim damals frisch gegründeten österreichischen Pop-Sender Ö3, der unter anderem Brian Jones, Frank Zappa und John & Yoko interviewte (erstere im Studio, letztere in ihrem Hotelbett). Ein Künstler wie Heller jedenfalls, der neben seiner Kunst auch das Handwerk des Kritikers beherrscht, ist letzterem naturgemäß suspekt.

André Heller: »Spätes Leuchten« (2019)

Jetzt reinhören

»Spätes Leuchten«
»Spätes Leuchten« »Spätes Leuchten« © André Heller

Kitsch und Bombast

Die Kritiker-Aggressionen, die Heller vor allem in seiner Heimatstadt Wien seit jeher hervorruft, haben aber auch noch andere Gründe. Etwa seine provokant luxuriöse Unbescheidenheit, die sich gar nicht ziemt in einer Stadt, die von ihren Künstlern immer schon demütige Dankbarkeit für das Privileg ihrer Existenz erwartet. Aber auch seine fehlende Scheu vor dem großen Gefühl. Oder wie es Hans Magnus Enzensberger in seiner Festschrift zu Hellers Sechziger formulierte: »Vor dem Sentiment, das die Priester der Nüchternheit scheuen wie die Teufel das Weihwasser, hat er keine Angst; das Ornament, das die Puritaner abschaffen wollen, ist ihm heilig; und selbst was den Kitsch angeht, scheint er ihm ein geringeres Übel als die Entsagung zu sein. Die Grenzen des guten Geschmacks zu respektieren, fällt ihm, wie allen Träumern, nicht ein.«

Und gerade das ist gerade in Wien ein schweres Vergehen. Denn dort herrscht eine aus historischen Gründen durchaus fundierte Phobie vor Kitsch und Bombast, der man in der nirgendwo graueren Nachkriegszeit auf künstlerisch wertvolle Weise entweder durch noch mehr Düsterkeit oder katholisch-schuldgetränkte Katharsis zu begegnen hatte. Bezeichnenderweise fiel es in den Siebzigerjahren ausgerechnet dem großbürgerlich aufgewachsenen Heller und dem ihm in Unähnlichkeit verbundenen Helmut Qualtinger zu, das in seiner Rührseligkeit gleichermaßen verachtete wie hemmungslos verschlagerte, volkstümliche Wienerlied als eine sowohl dem wissendsten Kunstlied als auch dem besten Popsong ebenbürtige, genuine Form zu rehabilitieren.

Politisches Engagement

Doch zurück zur katholischen Schuld: Nicht, dass Heller jene fremd gewesen wäre. Große Teile seines textlichen Schaffens – vom »Angstlied« aus dem Album »Verwunschen« (1980) bis hin zu seinem von Rupert Henning 2019 verfilmten autofiktionalen Buch »Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein« – behandeln das Trauma seiner Schulzeit in einem Jesuiten-Internat.

Aber Hellers Überwindung dieses Missbrauchs war zumindest in seinem Werk immer eine offensiv farbenfrohe und liebevolle. Und ja, die Tatsache, dass sein großteils abwesender Vater, der Süßwaren-Fabrikant Stephan Heller, zwar leidenschaftlich katholisch assimiliert, aber als Jude geboren war, inspirierte ebenfalls nicht nur Hellers Werk, sondern wohl auch so manche bewusst oder unbewusst antisemitische Antipathie gegen ihn.

Das Bewusstsein des verdrängten Judentums in seiner Familie und seine damit zusammenhängende Empathie für Verfolgte äußerte sich immer wieder in Hellers politischem Engagement. Ob bei den Friedensdemos der frühen Achtziger oder beim »Lichtermeer« 1993 auf dem Wiener Heldenplatz, einer von 300.000 Menschen besuchten Demonstration gegen den zunehmend aggressiven Rechtspopulismus. Oder zwei Jahre später beim »Fest der Freiheit« zum Protest gegen eine Serie von rechtsextremen Bombenattentaten, der unter anderem im burgenländischen Ort Oberwart vier Roma zum Opfer gefallen waren. Als Zeichen der Unerschrockenheit erschien Heller zu dieser Kundgebung mit Salman Rushdie, der damals unter der Bedrohung der Fatwa im Verborgenen lebte.

Immer gern voraus

An dieser Stelle sollte ich wohl endlich auch meine Befangenheit anmelden, kenne ich André Heller doch seit 13 Jahren. Als Koproduzent nahm ich mit ihm gemeinsam sein Album »Spätes Leuchten« (2018) auf, naturgemäß eine der letzten Plattenproduktionen ihrer Art.

Im Herbst 2021, als die Welt langsam den Lockdown hinter sich ließ, konnte ich mit ihm und dreizehn anderen Musikerinnen und Musikern in seinem Wiener Salon (wahrscheinlich dem letzten, den es gibt) sein erstes und vermutlich letztes Hauskonzert spielen. Vor Kameras und wechselndem Publikum, drei Nächte lang. Wobei ich nach der ersten (wir hatten über drei Stunden am Stück gesungen und gespielt) auf der Straße vor seinem Haus vor Erschöpfung kollabierte. Er dagegen selbstverständlich nicht.

André Heller: »Es gibt« (Hauskonzert am 6. Januar 2022)

Ich bin hinter André Heller durch die Straßen von Wien und Marrakesch gelaufen (er geht immer gern voraus), habe beobachtet, wie die Leute diese Erscheinung mit dem schlohweißen Haar an- bzw. ihr nachsehen. Manche erkennen Heller als Heller, andere denken wohl, sie sollten ihn erkennen und fragen sich woher. Beide wissen mit ziemlicher Sicherheit nur einen Bruchteil vom Obenstehenden oder von den vielen anderen Abenteuern, die aus André Hellers Kopf in die Realität entsprungen sind. Etwa dass er als Mitbegründer des den Widerspruch zwischen art und artistry auflösenden »Zirkus Roncalli« schon Mitte der Siebziger eine Grundlage nicht nur für spätere Projekte wie das Kunst-Varieté »Flic Flac« oder eben »Luna Luna« schuf, sondern auch dafür, was geschäftstüchtige Naturen später zum »Cirque du Soleil« ausbauen sollten. Oder dass er erst im italienischen Gardone, dann in Marokko mit seinem Garten Anima veritable botanische Wunder-Oasen erschaffen hat.

Der Autor Christian Seiler hat in seiner 2012 erschienenen Heller-Biographie »Feuerkopf« versucht, die schwindelerregende, manische Vielfalt dieses Lebenswerks zwischen zwei Buchdeckel zu stopfen. Freilich fehlt darin naturgemäß bereits das gesamte letzte Jahrzehnt, einschließlich etwa der Konferenz »Now!«, bei der Heller 2015 in Wien Menschenrechtsorganisationen und Lokalpolitiker europäischer Länder zusammenbrachte, um die Lage aus Not Geflüchteter zu bessern. Oder seiner acht Staffeln langen TV-Interview-Reihe »Menschenkinder« (2013–2016, u. a. mit Conchita Wurst, Arnulf Rainer, Michael Haneke). Oder des Erscheinens seines großen Lebensromans »Das Buch vom Süden« (2016), der berührenden Beschäftigung mit seiner greisen Mutter »Uhren gibt es nicht mehr« (2017), des erwähnten Albums »Spätes Leuchten« (2018) und so viel mehr.

Es ist wohl wahr, Heller war immer schon ein Traumtänzer, beseelt vom, wie Seiler schreibt, »tiefen Glauben, dass die eigene Wahrnehmung identisch mit der Welt ist.« Aber sein mindestens ebenso großes Ausnahmetalent ist seine durch die schiere Menge und Vielfalt seines Lebenswerks belegte Fähigkeit zur Verwirklichung dieser Träume. Was immer André Heller also in der Elbphilharmonie auf die Bühne stellen wird, in seiner Essenz wird dieses Programm die Erfahrung all dieser Dinge in sich tragen.


Dieser Artikel erscheint im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 1/24).

Reflektor André Heller :Veranstaltungen im Überblick

Mediathek : Weitere Beiträge

Video abspielen

: Elbphilharmonie Sessions: Pablo Barragán

Für eine ganz besondere »Elbphilharmonie Session« bringt Weltklasse-Klarinettist Pablo Barragán das Hamburger Mahnmal St. Nikolai zum Klingen.

Krieg und Frieden in der Musik

Wie spricht Musik vom Krieg? Und wie klingt Frieden? Ein Essay.

Alan Gilbert dirigiert Beethoven und Schönberg
Video abspielen

Video on Demand vom 3.5.2024 : Alan Gilbert dirigiert Beethoven und Schönberg

Unter der Leitung seines Chefdirigenten präsentiert das NDR Elbphilharmonie Orchester Schönbergs »Ein Überlebender aus Warschau« und Beethovens berühmte Neunte Sinfonie