François-Xavier Roth

»Den Ganzen Horizont vor Augen«

Der Dirigent François-Xavier Roth über Herausforderungen für den Geist, frische Blicke auf die Musik und fliegende Taktstöcke.

Er ist der große Universalist unter den Dirigenten unserer Tage, zu Hause in Barock und Klassik ebenso wie im romantischen Kernrepertoire und – ganz besonders – in der Neuen Musik. Diese Bandbreite spiegeln auch seine Programme beim Kölner Gürzenich-Orchester wider, wo François-Xavier Roth seit 2015 Generalmusikdirektor ist. Zeitgenössische Werke und Uraufführungen sind darin fester Bestandteil, etwa die intensive Zusammenarbeit mit Philippe Manoury als »Komponist für Köln«. In der Saison 2018/19 dirigierte Roth die Uraufführung von dessen abendfüllendem »Lab. Oratorium«, in dem es um das Leid von Flüchtenden geht – und das er anschließend mit überwältigendem Erfolg auch in die Elbphilharmonie brachte.

 

»Lab.Oratorium« @ Elbphilharmonie »Lab.Oratorium« @ Elbphilharmonie © Daniel Dittus
»Lab.Oratorium« @ Elbphilharmonie »Lab.Oratorium« @ Elbphilharmonie © Daniel Dittus

Das Publikum folgt Roth, gerade weil er es mit klug konzipierten, dabei durchaus fordernden Programmen konfrontiert, ganz selbstverständlich auch mit einem erheblichen Anteil Neuer Musik. »Mein ideales Programm ist eines, in dem das Publikum neue Erfahrungen macht – egal ob bei Mozart oder zeitgenössischen Werken«, formuliert er seinen Anspruch. Der hat 2003 auch zur Gründung seines Orchesters Les Siècles geführt, mit dem der 1971 geborene Franzose Musik unterschiedlichster Epochen aufführt – jedoch stets mit den Instrumenten und im Aufführungsstil der jeweiligen Entstehungszeit. Als »Chamäleon« bezeichnet Roth seinen Klangkörper liebevoll, dessen Musiker:innen in einem Konzert schon mal auf drei unterschiedlichen Instrumentarien spielen: Originalklang on demand sozusagen.

Seine beeindruckende Versatilität demonstriert Roth in der Spielzeit 2023/24 der Elbphilharmonie, die ihm mit drei Konzerten einen besonderen Schwerpunkt widmet: Unter seiner Leitung lassen Les Siècles mit Violinistin Isabelle Faust und Pianist Alexander Melnikov zwei Komponisten aufeinandertreffen, die auf den ersten Blick nicht viel gemeinsamen haben: den spritzigen Klassiker Mozart und den visionären Klangschöpfer György Ligeti. Zum Abschluss dirigiert er Bernd Alois Zimmermanns bombastisch besetzte Oper »Die Soldaten« in einer Inszenierung von Calixto Bieito.

Interview

Herr Roth, Sie haben eine Vorliebe für ungewöhnliche Konzertprogramme, die für den Zuhörer durchaus fordernd sind. Welche Haltung verbirgt sich dahinter?

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir auch mit vermeintlich schwierigen Programmen die Menschen erreichen können – wenn sie gut gemacht sind. Das ist doch eine Entwicklung, die wir in vielen Bereichen beobachten: dass nichts mehr schwierig oder kompliziert sein darf, dass alles immer möglichst niederschwellig sein muss, auch beim Zugang zur Musik. Ich halte das für gefährlich. Wir müssen unseren Geist doch fordern, damit er sein ganzes Potenzial entfalten kann. Und ich glaube, die Menschen wollen gefordert werden, wenn es sich für sie lohnt.

Woher kommt Ihr ausgeprägtes Interesse an einem derart weit gespannten Repertoire?

Viele Menschen verbinden meinen Namen mit zeitgenössischer Musik. Ich selbst sehe mich als Musiker, der Zeitgenössisches aus jeder Epoche mag. Ich interessiere mich einfach stets dafür, was neu, was frisch ist. Das ist mein Blick auf die Musik, egal ob ich einen Zeitgenossen wie Helmut Lachenmann dirigiere oder einen Barockkomponisten wie Jean-Philippe Rameau: Ich frage mich, was das Neuartige, das Innovative daran ist, was uns der Komponist für diese Zeit damit sagt – egal ob heute, gestern oder vorgestern. Es gibt aber auch einen ungleich banaleren Aspekt dabei: Ich dirigiere die Musik, die ich liebe. Es war allerdings nie mein Plan, ein universeller Dirigent zu werden. Dahinter verbirgt sich keine Karriere-Strategie.

Sie machen sich damit aber auch die Arbeit schwerer, oder? Nehmen wir einen Dirigenten wie Christian Thielemann, der sich bei Bruckner, Wagner und Strauss sehr wohlfühlt und dieses Repertoire aus dem Effeff beherrscht. Sie hingegen müssen jedes Mal quasi bei null anfangen.

Das ist eine Frage der Balance, und da findet jeder einen anderen Weg, wie man die Musik frisch und sich selbst den Spaß daran erhält. Ich möchte in der einen Woche Bach und Rameau dirigieren und in der nächsten György Ligeti und Pierre Boulez. Für mich ist das der ideale Weg – eine ganz persönliche Entscheidung. Es vertieft auch mein Verständnis von Musik. Wenn ich zum Beispiel Robert Schumann dirigiere, dessen Musik viel mit Fluss zu tun hat, verstehe ich danach Richard Wagner besser, der dann eine Brücke zu Richard Strauss baut, der mich wiederum zu Ligeti führt.

François-Xavier Roth / Les Siècles: György Ligeti

Jetzt reinhören!

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None © Holger Talinski

Klingt so, als mögen Sie keine Routine.

Absolut! Ich bin nicht daran interessiert, das immer gleiche Repertoire zu wiederholen. Routine lähmt die Kreativität. Ich könnte einfach zehn Programme im Jahr dirigieren und basta. Aber das würde mich nicht glücklich machen. Indem ich zwischen den Jahrhunderten hin- und herspringe, behalte ich mir einen unverbrauchten Blick auf die Musik und auf das Wesentliche in ihr. Leonard Bernstein hat das auch so gemacht: Selbst wenn er ein Stück schon hundertmal dirigiert hat, kaufte er jedes Mal wieder eine neue Partitur – weil er seine alten Notizen nicht lesen wollte. Er wollte die Musik jedes Mal neu denken!

Was heißt das nun für die Orchester, mit denen Sie arbeiten? Mit Les Siècles spielten Sie in Hamburg zum Beispiel ein Tanzprogramm mit Werken aus vier Jahrhunderten.

Das geht natürlich nicht mit jedem Orchester. Ich würde sogar sagen, Les Siècles ist das einzig Orchester, mit dem das funktioniert. Es ist wie ein Chamäleon, das für jede Epoche, für jeden Komponisten das richtige Instrumentarium, die richtigen Farben und den richtigen Stil sucht. Für dieses Konzert haben die Musiker drei verschiedene Instrumente dabei, was jedes Mal zu einem anderen Klangerlebnis führt. Als wir damit angefangen haben, war das ein Experiment, und wir wussten nicht, ob es gelingt. Am Ende haben wir das Publikum damit erreicht und können sagen: Es hat funktioniert. Aber natürlich ist das schwierig für die Musiker, weil sie jedes Mal in eine andere Rolle schlüpfen müssen, wie ein Schauspieler. Dem Publikum jedoch ermöglichen wir damit unterschiedliche Höreindrücke. Es kann die Musik immer neu und anders erleben. Es geht uns dabei nicht um das Spektakel, sondern allein darum, den Hörern tiefere Erfahrungen zu ermöglichen.

Bei Les Siècles ist die Flexibilität erklärtes Ziel. Wie sieht es bei den traditionellen Klangkörpern aus: Brauchen Orchester heute grundsätzlich eine größere Flexibilität?

Definitiv! Eine ganze Zeit lang war das den Orchestern der historischen Aufführungspraxis oder den Neue-Musik-Ensembles vorbehalten, den sogenannten Spezialisten. Aber nehmen Sie Les Siècles, das ist kein Spezialisten-Ensemble. Oder wenn Sie so wollen: Wir sind Spezialisten für alles. Das ist eine Tendenz, die ich immer stärker beobachte, dass es nicht mehr so sehr darum geht, sich auf eine Epoche zu spezialisieren, sondern sich in der ganzen Bandbreite der Musik stilistisch sicher zu bewegen. Ich erlebe, dass viele Orchester heute mit einer viel größeren Selbstverständlichkeit zeitgenössische Musik spielen, nach Jahren, in denen das eher ein Tabu war. Zur gleichen Zeit spielen sie aber auch mehr Haydn und Bach – das bereichert das Orchesterleben ungemein – als wenn man nicht immer nur aus einem kleinen Fenster schaut, sondern den ganzen Horizont vor Augen hat. Ein gutes Beispiel dafür ist das Mahler Chamber Orchestra, das in so vielen unterschiedlichen Stilen zu Hause ist. Die sind bei Mozart genauso gut wie in der Romantik oder der Moderne. In Hamburg spielen wir in einem Konzert Werke von Joseph Haydn, Bohuslav Martinů und György Ligeti.

None © Francois Sechet

»Ich bin nicht daran interessiert, das immer gleiche Repertoire zu wiederholen. Routine lähmt die Kreativität.«

Noch einmal eine andere Flexibilität braucht das Gürzenich-Orchester Köln, das nicht nur auf dem Konzertpodium spielt, sondern in erster Linie das Opernorchester der Stadt ist. Was heißt das für die Musiker?

Sie müssen reagieren! Etwa auf einen Sänger auf der Bühne. Sie müssen seinem Atem, seinem Tempo folgen und gleichzeitig auf die Umstände der Inszenierung achten. Opernorchester sind berühmt für diese besondere Flexibilität.

Gibt es eigentlich einen Grund, warum Sie ohne Taktstock dirigieren? Für Ihren Kollegen Christoph Eschenbach ist er ein »Präzisionsmittel«, und Colin Davis sagte einmal, der Taktstock sei wie eine Angel, mit der man im Orchester nach Klängen fischen könne. Klingt doch nach einem durchaus nützlichen Werkzeug …

Ich bin damit ja nicht allein, Pierre Boulez etwa hat auch keinen Taktstock benutzt. Auch das ist eine persönliche Entscheidung und war bei mir zugleich eine praktische. Am Anfang habe ich noch mit Taktstock dirigiert, der flog aber regelmäßig durch die Gegend – ganz schön peinlich! Dann habe ich ihn einfach weggelassen und gemerkt, dass es ohne auch ganz wunderbar funktioniert. Et voilà! Es gibt aber auch einen ernsthaften musikalischen Hintergrund, der wiederum etwas mit den unterschiedlichen Dirigententypen zu tun hat. Manche dirigieren sehr präzise, was einen genauen Fokus der Musiker auf den Taktstock erfordert. Ich bin ein anderer Typ. Natürlich brauche ich auch die Aufmerksamkeit meiner Musiker, aber ich muss nicht jeden Takt minutiös ausdirigieren. Ich versuche eher, dass alle Mitglieder des Orchesters Kontakt miteinander haben – dafür brauche ich aber keinen Taktstock. Für mich ist diese Verbindung wichtig, wenn sie funktioniert, schafft das auch Freiheit für die Musiker. Wenn wir uns zum Beispiel Aufnahmen von Claudio Abbado ansehen, hatte sein Dirigieren viel mehr mit Zuhören zu tun als damit, dass seine Musiker bedingungslos seinem Dirigat folgten.

Claudio Abbado dirigiert die New York Philharmonic (1963)

Verrät der Verzicht auf den Taktstock auch etwas über Ihre Beziehung zu den Musikern? Der kleine Stab kann ja auch als Symbol der Herrschaft verstanden werden, wie das Zepter des Königs.

Die Rolle des Dirigenten ist eine spezielle, denn immerhin steht er vor dem Orchester, um es zu leiten. Natürlich ist das eine Frage von Autorität, auch von Respekt. Wie ein Dirigent damit umgeht, ist dann aber wieder eine Frage der Persönlichkeit und des Egos. Ich kenne Kollegen, die abseits der Bühne lieber keinen Kontakt mit ihren Musikern haben. Das hat nichts damit zu tun, dass sie autoritär oder abweisend wären. Aber für sie ist es besser, eine klare Grenze zu ziehen. Ich hingegen mag den Kontakt und den Austausch gern. Ich verlange ja auch viel von den Musikern. Wir können ein Publikum nur erreichen und für Musik begeistern, wenn jeder im Orchester 200 Prozent gibt.

None © Gesche Jäger

»Ich muss nicht jeden Takt minutiös ausdirigieren. Ich versuche eher, dass alle Musiker Kontakt miteinander haben.«

Und was können Sie tun, wenn Sie diese 200 Prozent einmal nicht bekommen?

Das ist ein großer Teil meiner Rolle als Dirigent: Dass ich die Musiker mitnehmen und überzeugen kann. Manchmal gelingt das mit nur wenigen Worten in einer Probe – die aber in einem entscheidenden Moment vorgebracht. Das kann zu einer Initialzündung werden und gewaltige Energien freisetzen, die sich dann auch auf das Publikum übertragen.

 

 

Interview: Bjørn Woll

Dieses Interview erschien im Elbphilharmonie Magazin (1/20)

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