Cécile McLorin Salvant

Cécile McLorin Salvant im Portrait

Geliebte Menschenfresserin – die legendäre Jazz-Sängerin bringt eine dunkle Jazz-Oper auf die Bühne.

Text: Jan Paersch, 1. Februar 2024

 

Es gibt diese Musiker, von denen es heißt, dass sie ihre Künstlerkarriere schon im Grundschulalter absehen konnten. Keith Jarrett trat bereits als Fünfjähriger in Fernsehshows auf, Stevie Wonder konnte mit zehn besser Mundharmonika spielen als fast alle Erwachsenen. Und dann gibt es die, die deutlich länger gebraucht haben. So eine ist Cécile McLorin Salvant: »Mit 16 wäre es mir nicht im Traum in den Sinn gekommen, Jazzsängerin zu werden. Ich hatte viel mehr Lust, Pearl Jam zu hören.«

Heute ist Salvant, geboren 1989 in Miami, Florida, eine der gefragtesten Sängerinnen überhaupt, vom Publikum gefeiert, von der Kritik für ihre »Kunstfertigkeit der allerhöchsten Klasse« umjubelt. Die »FAZ« schwärmt: »Wenn Salvants Stimme mühelos durch die Oktaven springt, reißt der Himmel auf.« Der Trompeter Wynton Marsalis sagt über sie: »Eine solche Sängerin gibt es alle paar Generationen nur einmal.«

Demnächst steht Cécile McLorin Salvant mit einem 13-köpfigen Ensemble auf der Bühne im Großen Saal der Elbphilharmonie und wird als Sängerin, Komponistin und visuelle Gestalterin ihren Songzyklus »Ogresse« vorstellen. Und das hat viel mit dem langen, gewundenen Weg zu tun, der sie zum Jazz brachte; und mit einem obszönen Blues, den ein angetrunkener New-Orleans-Pianist vor mehr als 85 Jahren gespielt hat. Aber dazu später mehr.

 

Cécile McLorin Salvant Cécile McLorin Salvant © Mark Fitton

»Eine solche Sängerin gibt es alle paar Generationen nur einmal.«

Wynton Marsalis

Von Barock zu Jazz

In den Neunzigerjahren sieht noch niemand das enorme Talent des Mädchens, am wenigsten sie selbst. Sie ist damit beschäftigt, den elterlichen Plattenteller zu bestücken. Der Vater stammt aus Haiti; die Mutter mit französisch-guadeloupischen Wurzeln hatte als Diplomatenkind schon in jungen Jahren auf vier Kontinenten gelebt. Ein weltgewandtes Haus. »So hatte ich das Glück, von allen möglichen Stilen umgeben gewesen zu sein«, erinnert sich Salvant. »Zu Hause liefen Hip-Hop, Soul, Gospel, kubanische und haitianische Musik. Und Sarah Vaughan war immer präsent. Wenn du als Kind so etwas hörst, öffnet sich dir eine ganze Welt.« Zu alldem weckt die ältere Schwester in der jungen Cécile das Interesse für den düsteren Rock von Nine Inch Nails. Als 15-Jährige trägt sie einen Irokesenschnitt und hört radikalfeministischen Punk; ihre Lieblingsband heißt Bikini Kill.

Salvant hatte immer ihren eigenen Kopf – vor allem weiß sie, was sie nicht will. »Es hat mich so überhaupt nicht interessiert«, sagt sie über den Klavierunterricht ihrer Kindheit; sie habe nie geübt und sei nur aufgrund des Drucks ihrer Mutter drangeblieben. Dennoch bleibt ihr die klassische Musik als Hobby erhalten, auch als sie mit 18 Jahren zum Studium nach Südfrankreich geht. »Ich habe auf einer politikwissenschaftlichen Hochschule Jura studiert – und nebenbei Barockmusik«, erzählt Salvant über ihre Zeit in Aix-en-Provence. »Für Jazz hatte ich keine Zeit: Eine schöne Sache, aber es hat mich nicht wirklich interessiert.« 

Cécile McLorin Salvant – »Mélusine«

Weil aber die Mutter drängt (und weil dort die Coolen mit den Dreadlocks abhängen), nimmt sie doch an einem Jazzkurs teil – und hat ein weitreichendes Aha-Erlebnis: »Dass Jazz eine echte Karriere-Option sein könnte, habe ich erst dort in Frankreich gemerkt«, sagt Salvant heute. »Und das ist für mich ein Skandal! Jazz ist die Musik Amerikas, er ist Amerikas Kunstform, er ist schwarze Musik. Er ist ein Grund dafür, warum Menschen die schlimmen Umstände überwunden haben, in denen sie sich befanden. Jazz war eine Möglichkeit, zu zeigen, dass wir Schwarzen nicht nur kluge Wesen sind, sondern Künstler und Genies, die Respekt verdienten.«

Salvant wechselt das Fach, statt Barock- studiert sie fortan Jazzgesang, zieht ihre Inspiration nicht nur aus dem Repertoire, sondern auch aus den gesanglichen Eigenheiten der ganz Großen: Sarah Vaughan, Ella Fitzgerald, Billie Holiday. Bald folgen erste Konzerttouren durch Europa, doch in ihrer Heimat kennt sie noch niemand. Bis zum Jahr 2010. Eine märchenhafte Geschichte: Salvant nimmt an der Thelonious Monk Competition teil, einem der anspruchsvollsten Jazz-Nachwuchspreise. Sie gewinnt, scheinbar mühelos, und im Publikum sitzt ein Labelchef, der sie sofort unter Vertrag nimmt. Gleich ihr zweites Album wird für einen Grammy nominiert. Ehe sie 30 Jahre alt ist, besitzt sie drei der begehrten Trophäen.

Thelonious Monk
Thelonious Monk © The Library of Congress

Ein lebendes Songarchiv

Cécile McLorin Salvant ist ihrem eklektischen Musikgeschmack bis heute treu geblieben. Zu ihren aktuellen Lieblingskünstlern zählen James Blake und Billie Eilish. Aus heutiger Sicht erscheint es einleuchtend: Salvant braucht die Auseinandersetzung mit den Genies von gestern und heute, um all diese Musik aufzusaugen, sie in Kopf und Bauch umherzuwälzen, um sie Jahre später für ihre eigene Kunst neu zu kombinieren. Eine Initialzündung dabei war die Beschäftigung mit dem erwähnten angetrunkenen New-Orleans-Pianisten.

Es gibt eine legendäre Aufnahme des Ragtime-Künstlers Jelly Roll Morton aus dem Jahr 1938: die »Murder Ballad«, ein 30-minütiger Langform-Blues, der selbst aus heutiger Sicht mit drastischer Sprache gespickt ist. Es geht um das Schicksal einer Frau, die die Geliebte ihres Mannes erschossen hat. »Ich liebe den schroffen Schneid darin«, so Salvant. »Es ist das bemerkenswerte Beispiel eines Mannes, der Empathie zeigt – allein, dass er aus der Perspektive einer Frau singt! Da kommen feministische Themen vor, es geht um weibliche Solidarität, um lesbischen Sex, Mord und ethnische Fragen.« 

Jelly Roll Morton – »Murder Ballad«

Die Sängerin führt die »Murder Ballad« erstmals 2017 im ehrwürdigen New Yorker Lincoln Center auf. »Das Publikum war total perplex – Jazz gilt ja oft als familienfreundlich. Aber danach wurde mir klar, wie sehr ich mit langen Erzählformen arbeiten wollte. Bis dahin hatte ich viele Stücke gesungen, die aus Musicals oder aus der populären Musiktradition stammen. Aber ich liebe es, einen Handlungsbogen zu errichten, eine Geschichte zu erzählen und jeden Aspekt davon selbst auszuleben.«

Aus der Beschäftigung mit haitianischen Voodoo-Bildern heraus entwickelt Salvant die Figur eines weiblichen Ogers, eines menschenfressenden Monsters, das man sich deutlich unsympathischer als den grünen Filmhelden Shrek vorstellen darf: »Ogresse« nennt sie diese Figur, und deren Geschichte skizziert sie zunächst in denkbar knappen Worten: »She falls in love. She eats the guy. She dies.«

 

»Ich liebe es, einen Handlungsbogen zu errichten, eine Geschichte zu erzählen, jeden Aspekt davon selbst auszuleben.«

Cécile McLorin Salvant

 

»Ogresse« ist eine Jazz-Oper, ein dunkles Broadway-Musical, ein Stück über die Balance von Liebe, Leben und Tod. Für die Struktur ihrer Musik orientierte sich Salvant an französischen Barockkantaten, die die Umsetzung mit Sängerin und Orchester verlangen. Gemeinsam mit einem befreundeten Arrangeur hat sie ein 13-köpfiges Kammerensemble zusammengestellt; es gibt Banjos, Tubas, Congas und eine Marimba, dazu ein Streichquartett.

Salvant ist ein lebendes, lustvoll atmendes Song-Archiv. Sie hat Gregory Porter mit »The Wizard of Oz« kombiniert, Kate Bush im Stile gälischer Gesangtradition umgedeutet. Sie hat die edelste, aber auch abgegriffenste Form des Jazz zu neuen Höhen geführt, die Interpretation von Standards, nur von einem Pianisten begleitet. Selbst vor Songs voller Sexismus schreckt sie nicht zurück, macht sich mit viel Ironie ein rückständiges Stück wie »Wives and Lovers« zu eigen.

Die Macht eines intensiv vorgetragenen Liedes hat die Künstlerin zeitlebens beschäftigt. Unmittelbar nachdem sie ihren zweiten Grammy Award entgegengenommen hatte, sagte sie: »Ich liebe klassische Musik, ich liebe Barockmusik und Folk Music. Ich weiß gar nicht, warum ich selbst nichts davon singe.« Mit »Ogresse« schließt sie diese Lücke. Cécile McLorin Salvant hat sich ihren eigenen Reim auf die Vergangenheit gemacht. Und etwas Neues erschaffen. 

 

 

Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 1/24).

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