Bill Frisell

Bill Frisell im Portrait

Vielseitiger Input, einzigartiger Output: Über den US-amerikanischen Jazz-Gitarristen Bill Frisell.

Text: Ivana Rajič, 16.10.2023.
 

»Wenn ich nicht spiele, ist mein Verstand gefährdet«, gesteht Bill Frisell im September 2023 im Interview. Deswegen ist der US-Amerikaner, der zu den vielseitigsten Jazz-Gitarristen der letzten 40 Jahre zählt, auch nur für einen Tag zu Hause, in Brooklyn, New York City. Am nächsten Tag schon wird er nach Mexico City reisen, wo seine zarten Gitarrensounds bloß kurze Zeit nachhallen werden, um bald darauf an einem anderen Ort wieder aufzuklingen. Trotz des vollen Terminkalenders wirkt der mittlerweile 72-Jährige gelassen, sogar tiefenentspannt – so wie seine Musik: Die leisen Töne scheinen aus dem Nichts zu kommen, fein verästelt und langsam im Tempo, entfaltet quasi in Nicht-Geschwindigkeit. Seine Antworten kommen sehr viel schneller. Er wirkt aufgeschlossen und betont: »Wir können über alles Mögliche sprechen.«

Bill Frisell
Bill Frisell © Carole d’Inverno

Über Guilty Pleasures zum eigenen Sound

Die Antwort auf die Frage, wie er zu seinem unverwechselbaren, one-in-a-million Sound gefunden hat, kommt dann auch sofort: »Es hat etwas damit zu tun, keine Angst davor zu haben, zu zeigen, wer man ist«, sagt Frisell. Als ihn sein Gitarrenlehrer Dale Bruning nach dem Highschool-Abschluss mit der Musik von Charlie Parker, Thelonious Monk, Sonny Rollins, Wes Montgomery und Jim Hall bekannt machte, wollte er sich alle bisherigen musikalischen Einflüsse aus dem Kopf schlagen. 1971 nahm er Unterricht bei seinem großen Vorbild am wohl bedeutendsten Ausbildungsinstitut des zeitgenössischen Jazz, dem Berklee College of Music in Boston, Massachusetts – vier Jahre später sollte er hier schließlich studieren: »Alles drehte sich um Jim Hall. Ich hatte sogar die gleiche Gitarre wie er. Ich tat so, als wäre es 1956. Ich war in der Zeit stehengeblieben und wollte ein Bebop-Typ sein.«

Doch mit der Zeit wurde Frisell klar, dass alle Jazzmusiker:innen, zu denen er aufschaute, aus der Summe ihrer musikalischen Erlebnisse eine eigene Sprache formten. »Ich habe plötzlich gemerkt, dass ich nicht ehrlich zu mir selbst war. Ich hatte mir mehr Sorgen darüber gemacht, was die anderen denken würden. Alles, was ich tat, sollte cool und modern sein. Es gab Musik, die ich insgeheim mochte, die mir aber peinlich war.«

Solche »guilty pleasures« waren, man mag es heute kaum glauben, die Beatles oder Burt Bacharach, der Komponist von Liedern wie »Raindrops Keep Fallin’ On My Head« oder »I Say A Little Prayer« – für Frisell damals alles andere als hip. Jahrzehnte später erst würdigte er diese musikalischen Wurzeln mit seinen Cover-Alben »The Sweetest Punch« (1999) und »All We Are Saying« (2011). Prägend für den jungen US-Amerikaner waren auch Bob Dylans Folk-Rock-Soundtracks der Gegenkultur der 1960er Jahre, die er 1966 in Denver hörte. Und zwei Jahre später erlebte er das revolutionäre Spiel von Jimi Hendrix – dem Gitarrengenie der Rock-Ära jener Zeit.

Bill Frisell: »All we are saying«

Jetzt reinhören

Bill Frisell
Bill Frisell Bill Frisell © Monica Frisell

Born in the U.S.A.: Die 50er Jahre

Den Startschuss für den Rock ’n’ Roll gaben Elvis Presley, Sam Cooke, Chuck Berry, Fats Domino und Buddy Holly bereits in den 1950er Jahren und brachten damit das Lebensgefühl einer ganzen Generation zum Ausdruck: Nonkonformität in einer Gesellschaft, in der sich alle gleich verhielten – wachstums- und konsumorientiert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die USA einen außergewöhnlichen Aufschwung: Geringe Inflation, starke Produktivitätssteigerungen. Neue Autos, Vorstadthäuser und in fast jedem von ihnen strahlt ein Fernseher familienfreundliche Unterhaltung aus. »Amerika steht in diesem Moment«, sagte der ehemalige britische Premierminister Winston Churchill 1945, »an der Spitze der Welt«. Doch die 1950er Jahre waren auch eine Zeit großer Konflikte: Der Beginn des Kalten Krieges und die Bürgerrechtsbewegung brachten die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft ans Licht.
 

»Ich war schon immer schüchtern. Musik war eine Möglichkeit, mit anderen zusammen zu sein.«


Mittendrin, in Denver, Colorado, wo angeblich auch der Cheeseburger herkommt, ist der 1951 in Baltimore geborene Frisell groß geworden. »Als ich in den 50er und 60er Jahren aufwuchs«, erinnert sich der Gitarrist, »gab es in dieser Stadt eine gewisse Trennung nach Hautfarbe, und auch eine wirtschaftliche. Aber dort, wo ich zur Schule ging, waren alle zusammen. Und so wurde mir erst viel später klar, wie viel Glück ich hatte.« Die Gemeinschaft ist es, nach der Frisell auch in der Musik sucht. »Ich war schon immer schüchtern. Musik war also eine Möglichkeit, mit anderen zusammen zu sein. Mir ging es um diese Art der Kommunikation – darum, einfach zuzuhören und Harmonie mit den Menschen zu finden.«

Musik ist seine Stimme

Instrumentale Dialoge führte Frisell zunächst mit der Klarinette, als er sich im Alter von neun Jahren den Denver Youth Musicians anschloss. Doch ein paar Jahre später entwickelte er dann ein größeres Interesse an der Gitarre. »Als ich meine erste Gitarre bekam, besorgte sich mein Freund eine. Ein anderer holte sich ein Schlagzeug. Und innerhalb von Tagen lernten wir ein paar Lieder und spielten sie auf einer Party. Es ging also von Anfang an darum, mit anderen zusammenzuspielen.« So auch mit den Mitgliedern der später durch Songs wie »September« und »Shining Star« berühmt gewordenen Band Earth, Wind & Fire, mit denen Frisell zur Schule ging. »Ich erinnere mich an eine Jamsession in meinem Keller, bei der Philip Bailey Schlagzeug und ich Gitarre spielte.«

Auch wenn der Denveraner sein Holzblasinstrument gegen ein Saiteninstrument austauschte, ist ihm das Spiel mit dem Atem geblieben. Eine Phrase, die auf der Klarinette erklingt, dauert so lange wie der Luftstrom selbst: Er erzählt die musikalische Aussage, hält den Klang und baut ihn auf. Genau wie beim Singen. Auch auf der Gitarre kann Frisell die Töne verlängern, sie nach dem Anreißen der Saite anschwellen statt verklingen lassen – mithilfe eines Fuzz- und Volume-Pedals. Damals, in den 1980er Jahren, hatte er diese Spieltechnik zum Stilmittel erhoben und setzte die ganzen elektronischen Verzerrungsmittel – Loop-Geräte, Kompressoren und Effektpedale – so explosiv ein wie Gerhard Richter alle bildnerischen Tools für seine Stilbrüche. Dessen Farbspuren folgt der Gitarrist, inspiriert von einer abstrakten Bilderserie des deutschen Malers, in seinem 2005 veröffentlichten Album »Richter 858«.

Neugier auf New York

Es war die Zeit nach seinem Studienabschluss 1978, als Frisell bei den schillernden Exzentrikern vom East Village und der Avantgarde-Szene der Knitting Factory in New York City landete, der Welthauptstadt des Jazz. »New York hat mich schon immer angezogen. Trotzdem hatte ich Angst, dorthin zu gehen«, offenbart der Gitarrist. »Aber ich wusste, dass die Stadt ein Teil der Musikgeschichte ist, und ich wollte ihn unbedingt erleben.«

Anfangs hatte Frisell tatsächlich Schwierigkeiten, Fuß zu fassen. Er spielte in Hotelbars und auf Hochzeiten, um über die Runden zu kommen. Aus seiner Studienzeit kannte er den Gitarristen Pat Metheny, der ihn dem Schlagzeuger Paul Motian empfahl, was den Football ins Rollen brachte. Mit Motians Band ging er 1981 auf Tournee nach Europa und nahm das Quintett-Album »Psalm« auf, das bei ECM veröffentlicht wurde. Beim legendären Münchner Label, dessen Hausgitarrist Frisell in jenem Jahrzehnt wurde, erschien 1983 auch sein ätherisch-schwebendes Debüt »In Line«.

Frisells Biografie ist voll von solchen außergewöhnlichen musikalischen Begegnungen. Er nahm Alben mit dem Trompeter Chet Baker und Ginger Baker von Cream auf, spielte mit Paul Simon, dem Schlagzeuger Elvin Jones und dem Saxofonisten Charles Lloyd. Auf der Suche nach einer King Sunny Adé-Platte ging Frisell mal in die Downtown Music Gallery in der East Fifth Street in Manhattan, und kam mit dem Mann hinter der Theke ins Gespräch – es war der Komponist und Saxofonist John Zorn. In dessen epochemachender Artrock-Band Naked City wurde Frisells Spiel experimenteller, härter, kantiger. Die Musik: eine Collage aus sekundenschnellen Stil(aus)brüchen, das 20. Jahrhundert im Schnelldurchlauf.

Bill Frisell beim »Reflektor«-Festival von John Zorn in der Elbphilharmonie, März 2022.
Bill Frisell beim »Reflektor«-Festival von John Zorn in der Elbphilharmonie, März 2022.

Vielseitiger Input, einzigartiger Output

»Man erhält so viel Input, die ganze Zeit, und wird immer wieder durch etwas Neues inspiriert. Es gibt endlose Möglichkeiten, man möchte alles hören und sehen«, so Frisell über New York. Zehn Jahre lang lebte er dort, bevor er die Metropole hinter sich ließ – und damit im Vergleich zu seiner neuen Wahlheimat Seattle siebeneinhalb Millionen Nachbar:innen. »Ich hatte das Gefühl, ich muss meinem eigenen Geist Raum geben, um all diese Eindrücke zu verarbeiten.«

Und das tat er auch. So wie andere Menschen mehrere Sprachen beherrschen, kann sich der Ausnahme-Gitarrist in mehreren musikalischen Genres ausdrücken: Jazz, Folk, Rock, Klassik, Country, Bluegrass, you name it. Denn die Musik Frisells ist mehr in den strukturellen und harmonischen Möglichkeiten seines Instruments verwurzelt als in irgendeiner bestimmten Musikrichtung. Im Mittelpunkt steht die Gitarre, nicht der Gitarrist: »Man muss seine Aufmerksamkeit von sich selbst und dem eigenen Verstand abwenden. Wenn man in der Musik ist, wird sie einen mitführen«, davon ist der Denverianer überzeugt.
 

»Ich hatte wirklich mein Leben lang Glück, von Menschen umgeben zu sein, die an das glauben, was ich tue.«


Und wohin soll die Reise gehen? Am besten zu unerwarteten Klängen: »Das unglaublichste Gefühl ist, nicht zu wissen, was als nächstes passiert«, findet Frisell. Überrascht möchte er auch von seinen Spielpartner:innen werden, die er im Grunde als seine größten Lehrer:innen ansieht. »Ich fühle mich zu einer Person hingezogen, weil ich lernen möchte, was sie tut«, erklärt der Gitarrist.

In den vergangenen 40 Jahren hat er zahlreiche solcher musikalischen Freund:innen aus ganz verschiedenen Genres gefunden, die seine Neugier immer wieder neu beflügeln – neun von ihnen begleiten ihn im November 2023 zu seinem »Reflektor«-Festival ein Wochenende lang in die Elbphilharmonie. »Ich hatte wirklich mein Leben lang Glück, von Menschen umgeben zu sein, die an das glauben, was ich tue«, erzählt Frisell dankbar. Nicht im Alleingang, sondern als Teil »einer Musikgemeinschaft, die sich hilft und gegenseitig unterstützt«, veränderte der vielsaitige Virtuose den Sound der amerikanischen Musik.

Reflektor Bill Frisell :24.–26. November 2023: Konzerte im Überblick

Mediathek : Weitere Beiträge

Video abspielen

: Elbphilharmonie Sessions: Pablo Barragán

Für eine ganz besondere »Elbphilharmonie Session« bringt Weltklasse-Klarinettist Pablo Barragán das Hamburger Mahnmal St. Nikolai zum Klingen.

Krieg und Frieden in der Musik

Wie spricht Musik vom Krieg? Und wie klingt Frieden? Ein Essay.

Alan Gilbert dirigiert Beethoven und Schönberg
Video abspielen

Video on Demand vom 3.5.2024 : Alan Gilbert dirigiert Beethoven und Schönberg

Unter der Leitung seines Chefdirigenten präsentiert das NDR Elbphilharmonie Orchester Schönbergs »Ein Überlebender aus Warschau« und Beethovens berühmte Neunte Sinfonie