Alfred Schnittke

Alfred Schnittke im Portrait

Über einen der bedeutendsten Komponist:innen des 20. Jahrhunderts – ein Zeitzeuge berichtet.

Der deutsch-russische Komponist Alfred Schnittke zählt fraglos zu bedeutendsten Komponist:innen des 20. Jahrhunderts. Sein Name ist seit Jahrzehnten von den Konzertprogrammen nicht mehr wegzudenken – auch in der Filmmusik, im Musiktheater und sogar in der Ballett-Welt taucht er immer wieder auf. Mit Hamburg ist Schnittke ganz besonders verbunden: Er lebte viele Jahre in der Hansestadt, unterrichtete an der Musikhochschule, arbeitete mit seinem Verleger Sikorski und pflegte eine enge künstlerische Partnerschaft mit John Neumeier, dem Chefchoreografen und Direktor des Hamburg Balletts.

Zwischen Ost und West

1934 in Engels (Hauptstadt der damaligen Wolgadeutschen Republik) geboren, zog er 1946 nach Wien, wohin sein Vater für eine Zeitung versetzt worden. Nur ein paar Jahre später ging es für Schnittke dann weiter nach Moskau, wo er unter anderen Chorleitung und Komposition studierte. Berühmt machten ihn zunächst zahlreiche Soundtracks für russische Filme, doch schon bald machte er sich vor allem in der Konzertmusik einen Namen – mit großen orchestralen Werke ebenso wie mit spannender Kammermusik. In seinem Schaffen nahm er dabei selbst auf ganz verschiedene  Stilistiken Bezug, schuf Misch-Gattungen und begründete damit die so genannte Polystilistik.

Seine Musik setzte sich im Westen schnell durch und durfte sich über prominente Botschafter wie den legendären Gidon Kremer freuen. In der Sowjetunion hingegen hielt man Schnittkes musikalische Sprache für zu experimentell und nicht für geeignet, die Kulturpolitik der Regierung zu repräsentieren. 1990 zog Alfred Schnittke mit seiner Familie nach Hamburg, wo er bis zu seinem Tod 1998 bleib.

Der Hamburger Musikwissenschaftler und Publizist Lutz Lesle (*1934) hat Alfred Schnittke mehrfach persönlich getroffen. In einem ausführlichen Porträt für das Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 1/21) berichtet er von dem außergewöhnlichen Komponisten, seiner Musik und Persönlichkeit.

Der Meister der kreisenden Zeit :Lutz Lesle über den Komponisten Alfred Schnittke

Von der Danziger Leninwerft ausgehend, hatte sich 1980 in Polen eine Streikwelle ausgebreitet, die Anfang September die Zulassung der Gewerkschaft Solidarność erzwang. Wenige Tage danach erklang beim Festival Warschauer Herbst – der damals einzigen, von Moskau argwöhnisch beäugten Hörbühne zeitgenössischer Musik hinter dem Eisernen Vorhang – das Violinkonzert eines Komponisten aus der Sowjetunion, der mir allenfalls namentlich bekannt war. Und dies auch nur, weil das Hamburger Musikverlagshaus Sikorski, das die im eigenen Land um Anerkennung ringenden russischen Komponisten in der »freien Welt« vertrat, ihn bereits als Hoffnungsträger ausgespäht hatte.

Da die Reise sowjetischer Ensembles selbst in sozialistische Länder von bestimmten Genehmigungsverfahren abhing, konnten die Polen von Glück sagen, dass das angekündigte Orchester des Moskauer Konservatoriums tatsächlich eintraf und ein Stück mitbrachte, das im Jahr zuvor dort uraufgeführt worden war: das Konzert für Violine und Kammerorchester Nr. 3 von Alfred Schnittke. Mit dem Widmungsträger Oleg Kagan als Solisten bereiteten die Russen dem Werk seine begeistert aufgenommene polnische Erstaufführung.

Oleg Kagan spielt Schnittkes Konzert für Violine und Kammerorchester Nr. 3 (Moskau, 1989)

Das Gegenspiel des Tonalen und Atonalen

Natürlich hatte man sich zur Dramaturgie des Konzertprogramms etwas gedacht: Schnittkes neuem Violinkonzert stellte man die Kammermusik Nr. 2 von Paul Hindemith voran und beschloss den Abend mit Alban Bergs Kammerkonzert. Von eben dieser Entourage hatte sich Schnittke bei der Entwicklung seines Klangkonzepts leiten lassen.

Die Programmfolge kennzeichnete also den als Geisteserben deutsch-österreichischer Musikkultur: kommt doch Hindemiths Kammermusik (1924) der polyphonen Satzkunst Johann Sebastian Bachs ebenso nah wie Bergs Kammerkonzert (1923 – 1925) dem ästhetischen Selbstverständnis der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg. Schnittke selbst erklärte, es sei ihm vor allem um »das Gegenspiel des Tonalen und Atonalen« gegangen. Doch machte er auch andere Einflüsse geltend, einerseits die altslawische Kirchenmusik, anderseits die deutsche Romantik.

In dieser Beziehungsvielfalt offenbart sich ein durchgehender Wesenszug seiner Musik: ihre »innere Programmatik« oder geistige Botschaft. Dem heterogenen kulturellen Bindegewebe seiner familiären Herkunft entspringend, führt sie mehr oder minder kenntliche Symbole, Anspielungen, Klangcharaktere, Chiffren und Namenszeichen mit sich – Adern tönenden Meinens und Bedeutens, die Schnittkes Idee eines Zusammenwirkens unterschiedlicher Orte und Zeiten in ein und demselben Werk befördern. Verschiedene Arten geistlichen Gesangs verbindet er ebenso wie Tonfälle unterschiedlicher Epochen, Stilhöhen und Sozialsphären.

Alfred Schnittke
Alfred Schnittke

Zeitebenen verschmelzen

Um diese Mannigfaltigkeit zu bannen, entwickelte Schnittke seine polystilistische Schreibart: ein Miteinander verschiedener Stilebenen ein parodistisch anmutendes Umspringen zwischen Nähe und Ferne, Höhe und Tiefe, Dichte und Auszehrung. All dem liegt die Vorstellung einer kreisenden Zeit zugrunde, die Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges verschmilzt.

Wie im Concerto grosso Nr. 3 aus dem fünffachen Jubiläumsjahr 1985, das Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Domenico Scarlatti und Alban Berg feierte. Als ich Schnittke im Oktober 1986, ein Jahr nach seinem ersten schweren Schlaganfall an der kaukasischen Schwarzmeerküste, im Hamburger Hotel »Vier Jahreszeiten« wiedertraf (so nobel beherbergte die Verlagsgruppe Sikorski ihren Schützling), begründete er die polystilistische Anlage seiner Sinfonie Nr. 4 für Solisten und Kammerorchester mit der Absicht, die drei »Spielarten« des Christentums – das Katholische, das Orthodoxe und das Protestantische – mit dem ursprünglichen jüdischen Tempelgesang zusammenzuführen. Entsprechend verknüpfte er Elemente des altrussischen »Zeichengesangs «, der Gregorianik, des lutherischen Chorals und des Synagogalgesangs. Wobei es ihm darauf ankam, eher das Verbindende der liturgischen Traditionen hörbar zu machen als das Trennende.

»Nirgends habe ich ein natürliches Heimatrecht«

Auch wenn er sich 1982 in Wien katholisch taufen ließ, galt ihm der Glaube mehr als alle Konfessionen. »Es gibt den glücklichen Punkt, wo sich alle treffen«, versicherte er mir. »Geht man über die Erde, so zeigen sich räumliche Widersprüche. Fliegt man über sie hin, verschwinden sie. So ist es auch mit dem Glauben.« Darum habe er in der Vierten verschiedene »Glaubens-Töne« schichtweise miteinander verbunden. So ließe sich geradezu von einer ökumenischen Sinfonie sprechen, folgerte ich unwidersprochen.

Fragt man sich nach dem Lebensgefühl Schnittkes, so kommt einem unwillkürlich die »Weltverlorenheit« Gustav Mahlers (der auch zum Katholizismus übertrat) in den Sinn: »Ich bin dreifach heimatlos«, so Mahler, »als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.« Wiewohl drei Kulturkreisen verbunden – dem deutschen, russischen und jüdischen –, fühlte sich auch Schnittke in tiefster Seele heimatlos: »Das unberechtigte Mitempfinden ist mein Schicksal – nirgends habe ich ein natürliches Heimatrecht.« Als der Dirigent Gerd Albrecht in einem Gesprächskonzert das »endlose Adagio« in Schnittkes Epilogmusik zu John Neumeiers Ballett »Peer Gynt« würdigte und den Komponisten mit der Wendung »Herr Schnittke, Sie als Russe …« anredete, bekam er zu hören: »Ich bin kein Russe. Ich bin ein heimatloser Jude, ein jüdischer Niemand.«

 

»Von allen Komponisten der vergangenen Epochen spüre ich die engste Verwandtschaft mit Mahler.«

Alfred Schnittke

 

So wundert es nicht, dass Schnittke Mahlers Tonwelt als wesensverwandt empfand. Ihre Anspielungen, ihre unerwarteten Brüche, Umwege und Mehrdeutigkeiten, ihre Aufbrüche materialer Einheit sowie die irritierende Nachbarschaft von Tragik und Trivialität finden sich gleichermaßen bei ihm. »Von allen Komponisten der vergangenen Epochen spüre ich die engste Verwandtschaft mit Mahler«, äußerte er.

Neben dem deutschen Erbteil, flankiert von Bach und Mahler, zeigen sich in Schnittkes Musik aber auch Spuren seiner russischen Umwelt – nicht zuletzt in Reminiszenzen an Dmitri Schostakowitsch, der gespaltenen Vaterfigur vieler unbotmäßiger Tonkünstler im Sowjetstaat, und dessen Hang zur motorisch verzerrten Groteske. Zu Bach und Schostakowitsch bekannte sich Schnittke ganz ausdrücklich, indem er etlichen seiner Werke die Ton-Monogramme B-A-C-H und D-Es-C-H einprägte.

Ballett- und Filmmusik

Ein halbes Jahr nach unserem Gespräch an der Binnenalster weilte Schnittke abermals in Hamburg, um der Einstudierung des Balletts »Peer Gynt« und seiner Ballettmusik beizuwohnen. Am Rande der Proben brachte ich das Gespräch auf die Erfahrungen seiner jungen Jahre, als es, eingeschnürt in ästhetische Reglements, schier ums Überleben ging.

Damals habe er viel Filmmusik geschrieben, erinnerte er sich, und mit so bekannten Regisseuren wie Alexander Mitta, Larissa Schepitko oder Elem Klimow zusammengearbeitet. »Aus Not, gewiss.« Doch habe das durchaus sein Gutes gehabt, »sah ich mich doch genötigt, vom hohen Ross meiner anfänglichen Doktrin herunterzusteigen«: Musik, so hatte er einst gemeint, dürfe sich nicht mit (über sie hinausweisenden) Inhalten einlassen, Tonfälle unterschiedlicher Zeiten und Weltgegenden aufnehmen, gar mit »niederen Idiomen« beflecken. Inzwischen sei für ihn aber sogar die Grenze zwischen religiöser und weltlicher Musik fließend.

Trailer: John Neumeiers Ballett »Peer Gynt«

Da es Schnittke immer wieder reizte, Gattungskombinationen zu züchten, um Wechselwirkungen unterschiedlicher Formen und Klangmilieus in ein und demselben Stück zu erzeugen, fällt es manchmal schwer, ein Werk einhellig einem Genre zuzuordnen. So ließen sich fast alle Concerti grossi auch als Instrumentalkonzerte ansprechen. Im Concerto grosso Nr. 1 (1977) spielen der Cembalist, der Pianist und die beiden Geiger eine Doppelrolle, indem sie als Konzertsolisten wie auch »gruppenführend« auftreten. Das Concerto grosso Nr. 5 (1991) wirkt wie ein veritables Violinkonzert. Das Concerto grosso Nr. 6 (1993) gibt sich im ersten Satz als Klavierkonzert, im zweiten Satz als Violinkonzert und im dritten Satz als Doppelkonzert für Violine und Klavier. Das Concerto grosso Nr. 4 (1988) bezeichnete Schnittke zugleich als Sinfonie Nr. 5: »Das Stück beginnt als Concerto grosso und endet als Sinfonie.«

Das Daseinsgefühl des Jahrhunderts

Für immer unvergesslich ist mir die große Retrospektive, die das Stockholmer Konzerthaus Alfred Schnittke im Oktober 1989 ausrichtete, und während der buchstäblich alles Kopf stand, was in der schwedischen Metropole einen Hörsinn besaß für eine mit erheblichen »Unterwasserteilen « ausgerüstete Musik (wie Schnittke sie nannte). Niemand hätte sich einen derartigen Publikumserfolg träumen lassen: An zehn Tagen mehr als vierzig Werkaufführungen und jeden Tag mehr Publikum – da blühten die Spekulationen über die musikalischen Verführungsstrategien eines Komponisten, der (sichtbar vom Schlaganfall gezeichnet) als Leidensmann, gerührt, ungläubig fast, die Ehrerbietungen, um nicht zu sagen Liebeserklärungen der Stockholmer entgegennahm.

Und selbst der konservativste Konzerthörer ahnte: Im Werden und Vergehen des Musikstroms, im Wechsel stilistischer Höhenlagen, im trügerischen, oft sehnsuchtsvoll-schwermütigen Anklang vertrauter Töne brach sich das Daseinsgefühl des zu Ende gehenden Jahrhunderts.

Fieberhafter Schaffensdruck

In den letzten acht Jahren seines Lebens, die er unter den Fittichen des Verlagsimperiums Sikorski in Hamburg zubrachte, stand Alfred Schnittke unter enormem Schaffensdruck (der ihm für seinen Lehrauftrag an der Musikhochschule kaum Zeit ließ). Mitten in der Arbeit an seiner ersten Oper »Leben mit einem Idioten«, die sich zwischen die wieder aufgenommene Beschäftigung mit der Faust-Figur schob, während ihn die Wiener Staatsoper auch noch mit einem Bühnenprojekt über den Renaissancekomponisten Gesualdo da Venosa bedrängte, streckte ihn im Sommer 1991 ein zweiter schwerer Gehirnschlag nieder. Wieder gelang es, den Patienten zu retten. In der Hansestadt (die ihn 1992 mit dem Bach-Preis ehrte) türmte er in fieberhaft gesteigertem Schaffenstempo zwischen Herbst 1991 und Frühjahr 1994 ein schier unglaubliches Spätwerk von mehr als zwei Dutzend Kompositionen auf, darunter drei Opern und drei Sinfonien (die Nummern 6 bis 8), acht Orchesterwerke (darunter das Concerto grosso Nr. 6), Kammermusik, Chöre und Lieder.

Opern ohne Erfolg

Dann ereilten ihn ein dritter und vierter Schlaganfall. Von den drei Opern war einzig der ersten, »Leben mit einem Idioten« nach einer grotesk-absurden Erzählung von Viktor Jerofejew (UA Amsterdam 1992), ein durchschlagender Erfolg beschieden. Das Opernprojekt über den Eifersuchtsmörder und chromatisch zerknirschten Madrigalkomponisten »Gesualdo« (UA Wien 1995) stand von vornherein unter einem Unstern. Zwar fesselte Schnittke das Sujet – die Verstrickung des Künstlers mit dem Bösen –, doch kam es immer wieder zu Unstimmigkeiten mit dem Librettisten.

Eher einem Flickenteppich ähnelt die »Historia« des Zauberers und Schwarzkünstlers Johann Faust, der sich dem Teufel verschrieb (UA Hamburg 1995, Dirigent Gerd Albrecht), wiewohl das Libretto hautnah am altdeutschen Textoriginal, dem Volksbuch von Johann Spies (1587), bleibt und der Musik mehr Möglichkeiten »moralischer« Schattierung gibt als die Gesualdo-Vorlage. Sei es der langen künstlerischen Inkubationszeit geschuldet oder dem körperlichen Verfall des Komponisten – »so richtig los« geht die Oper erst im dritten Akt, dem er seine Faust-Kantate »Seid nüchtern und wachet …« von 1983 einfügte.

Schnittkes Wohnhaus in Hamburg
Schnittkes Wohnhaus in Hamburg-Eppendorf (Beim Andreasbrunnen 7) © Udo Grinberg

Am 3. August 1998 gab sein zerrütteter Körper auf. Obwohl er Bundesbürger und Katholik geworden war, wurde Schnittke von Hamburg nach Moskau überführt, in einer russisch-orthodoxen Kirche aufgebahrt und auf dem Prominentenfriedhof am Neujungfrauen-Kloster beigesetzt. Nach seinem Hinscheiden wurde es allmählich still um ihn und sein Vermächtnis. Höchste Zeit für ein Wiederhören. Und eine Neueinschätzung seines Lebenswerks.

 

Text: Lutz Lesle, Stand: Januar 2021

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