Alexandre Kantorow

Alexandre Kantorow im Portrait

»Der wiedergeborene Liszt« – ein junger Pianist aus Paris erobert die Klavierwelt im Sturm.

Eine Solistengarderobe in der Elbphilharmonie, schlicht und elegant eingerichtet, bodentiefe Fenster geben den Blick auf die Hamburger Innenstadt frei. Auf dem weißen Holztisch steht eine Papiertüte mit einem Salat in einer To go-Schale, daneben eine dunkle Jacke und ein alter Rucksack. Am Flügel sitzt ein junger Mann. Er trägt ein schlichtes Leinenhemd und alte Chucks. Seine dunklen Haare fallen ihm in die Stirn, sein Kopf geht Richtung Fenster. Er spielt Brahms. Wie unbewusst bewegt er seine Hände über die Tasten, behutsam schlägt er einige leise Akkorde an, lässt seinen Blick ruhig über die Skyline draußen schweifen, lauscht der Musik.

Eben erst hat er ein Video-Interview gegeben, nun soll er sich für ein bisschen Schnittmaterial noch an den Flügel setzen, vielleicht ein paar Tonleitern spielen oder einfach nur über die Tasten streichen. Aber warum nur Tonleitern? Wenn dieser Mann vor einem Flügel sitzt, dann spielt er. Und wenn er spielt, dann meint er es ernst. Für einige Momente scheint die Welt stillzustehen in der Garderobe. Das Kamerateam ist längst regungslos und hört einfach nur diesem jungen Mann zu, der da so uneitel und unmittelbar alle in seinen Bann zieht.

 

»Der wiedergeborene Liszt«

Alexandre Kantorow ist kein Unbekannter in der Musikwelt. Sein Name hat längst die Runde gemacht und die internationale Kritik lobt ihn als einen der bedeutendsten Pianisten der jungen Generation – oder sogar überhaupt. Man liest, er sei der »wiedergeborene Liszt«, technisch virtuos, wandelbar und der geborene Interpret für die Musik des romantischen Komponisten. Natürlich spielt er aber nicht nur Liszt:  An anderer Stelle heißt es, er sei »geboren für Saint-Saëns«, seine einfühlsamen Brahms-Aufnahmen werden hochgelobt und mit Rachmaninow sorgt er ebenfalls für Begeisterung.

Alexandre Kantorow in der Elbphilharmonie

Gleich zweimal kehrt der junge Starpianist in der Saison 2022/23 in die Elbphilharmonie zurück – unter anderem mit einem Solo-Abend im Rahmen der neuen Reihe »FAST LANE«.

Alexandre Kantorow
Alexandre Kantorow © Elbphilharmonie Hamburg

Kindheit in einer Musikerfamilie

Ob für Liszt, Brahms oder Rachmaninow – geboren wurde Alexandre Kantorow 1997 im  französischen Clermont-Ferrand. Beide Eltern sind Musiker, die Mutter Geigerin, der Vater, Jean-Jacques, ist zunächst als Geiger und später auch als Dirigent berühmt geworden. Das bedeutet aber nicht, dass ihr Sohn Alexandre als Kind mehr in Konzerthäusern als auf Spielplätzen unterwegs gewesen wäre, im Gegenteil. »Wir waren selten im Konzert«, erzählt er, »und das Klavier war für mich viele Jahre lang eigentlich nur etwas, das ich halt gerne nach der Schule gemacht habe.«

 

Das erste Konzert

Die Eltern ließen ihm den Raum, ließen ihm jede Freiheit, seine eigenen Interessen zu entwickeln. »Sie wussten wahrscheinlich, dass es nicht einfach ist, als Kind von zwei Musikern aufzuwachsen. Sie waren sehr vorsichtig und haben sich zurückgehalten«, erinnert er sich. »Erst als ich irgendwann von mir aus gesagt habe, dass ich mir eine Karriere als Pianist vorstellen könnte, wurden sie aktiver und haben angefangen, mir Tipps zu geben.«

Zu diesem Zeitpunkt war Alexandre Kantorow 14 Jahre alt. Auf die Frage, was für seine Entscheidung damals ausschlaggebend war, erzählt er von einem Konzert mit seinem Schulorchester. Während der Proben fühlte er sich zum ersten Mal von vielen Gleichgesinnten umgeben. Auf dem Programm stand ein Werk Franz Liszts, die Ungarische Fantasie für Klavier und Orchester. Gerne denkt der Pianist heute daran zurück: »Es hat so viel Spaß gemacht! Ich erinnere mich genau an dieses besondere Gefühl, das erste Mal auf so eine Bühne zu gehen und alles um mich herum zu vergessen. Ich wusste plötzlich ganz sicher, dass es das ist, was ich machen will.«

Alexandre Kantorow im Interview

Senkrechtstart in eine Weltkarriere

Gesagt, getan: Schon bald folgten größere öffentliche Auftritte und erste Aufnahmen. Als er 2019 mit gerade einmal 22 Jahren den prestigeträchtigen Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau gewann, schlug er wie ein Komet ein in die Klavierwelt. Den Ruf als Nachwuchs-Star übersprang er gewissermaßen und reihte sich direkt ein in die erste Liga internationaler Solist:innen. Engagements führten ihn schnell zu den renommiertesten Klangkörpern, darunter das Budapest Festival Orchestra, das Boston Symphony und die Staatskapelle Berlin. Auch in der Elbphilharmonie eroberte er die Hamburger Herzen schon in den ersten Minuten, als er an der Seite von Teodor Currentzis und musicAeterna sein Debüt im Großen Saal gab – mit ausschließlich langsamen Sätzen unterschiedlichster Klavierkonzerte.

Alexandre Kantorow in der Elbphilharmonie, April 2022
Alexandre Kantorow in der Elbphilharmonie, April 2022 © Daniel Dittus

Gleich zweifach führt ihn sein Weg in der Saison 2022/23 an die Elbe zurück: Im November präsentiert er Rachmaninows Erstes Klavierkonzert mit den Münchner Philharmonikern, im März 2023 gestaltet er im Rahmen der neuen Elbphilharmonie-Reihe »Fast Lane« einen Solo-Abend im Kleinen Saal – auf dem Programm: Schubert und Brahms.

Und sonst so? Im Sommer 2022 feierte er die erste Auflage seines eigenen Kammermusik-Festivals in südfranzösischen Nîmes, das er gemeinsam mit zwei guten Freunden veranstaltete. An verschiedenen Orten der Stadt brachten sie drei Tage lang Musik auf die Bühne, die teilweise weit abseits des gängigen Repertoires liegt. »Es war ein Marathon«, erzählt er, »aber die Stimmung war super und das Publikum hat viele der unbekannten Werke sehr gut angenommen«.

Alexandre Kantorow Alexandre Kantorow © Sasha Gusov

»Eine Welt, in der Musik lebendig bleibt, ist immer eine bessere Welt.«

Vater und Sohn

Immer wieder steht Alexandre Kantorow auch mit seinem Vater Jean-Jacques auf der Bühne – mal im Duo mit Geige und Klavier, mal nebeneinander als Dirigent und Solist. »Wir haben uns vorgenommen, während unserer gemeinsamen Jahre in der Musikwelt so viel wie möglich zusammen zu machen.« Und das mit Erfolg: Neben einem Duo-Album mit französischen Violinsonaten entstanden hochgelobte Einspielungen von Liszts Klavierkonzerten.

Im Frühling 2022 gaben die beiden ihre vorerst letzten gemeinsamen Konzerte – und legten nach mit Aufnahmen von Saint-Saëns’ Werken für Klavier und Orchester. »Ich bin wahrscheinlich ganz unbewusst mit den künstlerischen Vorstellungen und Instinkten meines Vaters großgeworden«, sagt der Sohn und ist glücklich darüber, wie viel sie zu zweit umgesetzt haben: »Wir verstehen uns beim Proben oft ohne Worte. Es ist immer etwas sehr Besonderes, mit ihm zu musizieren.«

Jean-Jacques und Alexandre Kantorow (2014)

Hinhören lohnt sich

Wenn er gerade nicht auf Tournee ist, lebt Alexandre Kantorow in einer Wohnung in der Pariser Innenstadt. Auch wenn er in den Vororten großgeworden ist – »in Orten, wo es mehr Hühner als Menschen gibt«, wie er es selbst beschreibt –, ist das urbane Paris seine Heimat. Sobald er für eine längere Zeit unterwegs ist, vermisst er die Stadt an der Seine. Sein Lieblingsort? Der Parc des Buttes-Chaumont im 19. Arrondissement. Wann immer er zwischen Konzerten zu Hause ist, umgibt er sich am liebsten mit Freunden und Familie.

Sie seien »a good adjustment«, sagt er schmunzelnd: »Sie kennen mich am besten. Ich muss mich mit Menschen umgeben, sonst werde ich noch introvertierter«. Und nicht zuletzt auch mit Musik: »Auf der Bühne kann man nicht verschlossen sein. Sobald ich eine Bühne betrete, werde ich ein bisschen ein anderer, denn dort muss man sich ganz öffnen.« Wer Alexandre Kantorow auf der Bühne erlebt, spürt schnell: Wenn er sich öffnet, dann lohnt es sich hinzuhören.


Text: Julika von Werder; Stand: 13.09.2022

»Fast Lane« wird unterstützt von Porsche.

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