Graindelavoix

5 Fragen an Graindelavoix

Der Gründer und künstlerische Leiter des Vokalensembles Graindelavoix Björn Schmelzer über einen einzigartigen Auftritt in der Elbphilharmonie.

Eines der momentan innovativsten Vokalensembles für Alte Musik: Graindelavoix um den Musik-Forscher und Gesangspezialisten Björn Schmelzer. Die Gruppe aus Antwerpen ist bekannt für ihre spektakulären Aufführungen, in denen sie Renaissance-Musik theatral in Szene setzt und das Klangpotenzial von Kirchen, Museen oder Konzerthäusern maximal ausreizt. Für ihr Elbphilharmonie-Debüt hat Graindelavoix ein 500 Jahre altes Meisterwerk im Gepäck: Die einzigartige »Erdbebenmesse« von Antoine Brumel, mit dem der franko-flämische Komponist das biblische Erdbeben beim Wegrollen von Jesu Grabstein vertonte. 

 

5 Fragen

Warum haben Sie Antoine Brumels so genannte »Erdbebenmesse« für Ihr neues Programm »Rolling Stone« ausgewählt?

Ich mag diese verrückte Messe von Brumel, weil sie einzigartig ist. Es war immer ein Traum, diese Komposition für 12 Stimmen aufzuführen, dieses monströse und brillante Werk, das voller kontrapunktischer Widersprüche steckt. Die Messe ist beispiellos und unvergleichlich mit dem, was zu Brumels Zeiten komponiert wurde. Er scheint nicht für eine Symbiose oder eine Harmonie mit der Natur einzutreten, sondern für eine, in der die Unvollkommenheit, die Zerstörung und die Katastrophe gleichsam in den Prozess selbst eingeschrieben sind.

Für Sie vertritt der flämische Maler Pieter Bruegel d. Ältere eine ähnliche Haltung?

Konzeptionell auf jeden Fall. Zur gleichen Zeit entwickelt Bruegel in Flandern eine neue Art der Grisaille-Malerei als Reaktion auf die Zerstörung von Kunstwerken und als Antwort auf die Rolle der Kunstdarstellung im Allgemeinen. Seine Steinbilder sind eine künstlerische Reaktion auf das katastrophale Klima, in dem er lebte, auf das Ende der Kunst und auf die Frage, ob sie noch eine wichtige Rolle spielen könnte. 

Pieter Bruegel d. Ältere, Die Auferstehung Christi (c. 1562), Detail
Pieter Bruegel der Ältere, Die Auferstehung Christi (Detail), c. 1562 © Museum Boijmans van Beuningen

Warum haben Sie sich dafür entschieden, das Programm »Rolling Stone« mit einem italienischen Dokumentarfilm aus dem Jahr 1967 zu beginnen?

Wir verwenden nur den visuellen Teil dieses außergewöhnlichen Dokumentarfilms von Luigi di Gianni, um die Aufführung für das Publikum zu einem noch fremdartigeren Erlebnis zu machen. Der neue Soundtrack von Manuel Mota ist der Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der »Erdbebenmesse«. Der Film ist ein ganz wichtiges Preludium, ohne eine klare Bedeutung, um in das Werk einzutauchen und unseren künstlerischen Ansatz zu akzeptieren und zu verstehen, denke ich.

Wie haben Sie sich der Musik genähert?

Schon die Münchner Handschrift, die einzige, in der die Brumel-Messe überliefert ist, ist selbst ein Opfer der Katastrophe der Zeit, da sie von Bakterien befallen ist und die Tinte zunehmend unleserlich wird. Wir haben uns dafür entschieden, die Lücken und Löcher als Symptome ernst zu nehmen und sogar zu versuchen, sie hörbar zu machen. Wir hatten die Idee, eine Art parasitären Spielstil für die E-Gitarre zu entwickeln, manchmal in Kombination mit Serpent, Cornetto und den beiden Hörnern – eine Art unheimliche Verdoppelung oder Imitation mit ständigen Abweichungen, Ausrutschern und Beugungen. 

Wer sind die Musiker:innen für dieses Projekt?

Wir haben für dieses Projekt eine sehr gemischte Besetzung zusammengestellt. Neben den neun regulären Sänger:innen von Graindelavoix wollte ich die Besetzung durch weitere Sänger:innen mit Blasinstrumenten erweitern, die die apokalyptische Klangfülle verstärken sollen, aber auch zu einer speziellen Art von Historizität beitragen würden.

Stand: 10.07.2023

Mit freundlicher Genehmigung der KunstFestSpiele Herrenhausen, die dieses Interview anlässlich der Deutschlandpremiere im Mai 2023 mit Björn Schmelzer führten.

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