Sofia Gubaidulina

Neu gehört: Sofia Gubaidulina

5 Fragen an die Komponist:innen des Neue-Musik-Festivals »Elbphilharmonie Visions«.

Geht es um Komponist:innen klassischer Musik, denken viele an alte Meister wie Beethoven oder Mozart. Dass auch die Gegenwartsmusik »so reich und vielfältig wie die Menschheit selbst« (Alan Gilbert) sein kann, beweist das Festival »Elbphilharmonie Visions«. Dort steht ausschließlich die Musik zeitgenössischer Komponist:innen auf dem Programm. Das ist nicht nur musikalisch spannend, sondern bietet auch die großartige Chance, den Schöpfern Fragen zu ihren Werken und zum Komponieren selbst zu stellen. Wie funktioniert Komponieren überhaupt? Haben sie vorher schon eine konkrete Vorstellung von dem Werk oder entsteht es erst beim Schreiben? Was für eine Rolle spielt die Umgebung? Und was wünschen sie sich für ihre Musik?

Davon berichten die Komponist:innen des Festivals in Kurzinterviews. In dieser Ausgabe mit der mittlerweile über 90-jährigen Sofia Gubaidulina, die seit vielen Jahren in der Nähe Hamburgs lebt und aus deren Schaffen ein tiefer Glaube spricht. Der Dirigent Simon Rattle fand zu ihrer Musik die vielleicht schönsten Worte: Sie sei wie eine »fliegende Einsiedlerin, denn sie befindet sich immer auf einer Umlaufbahn und besucht nur gelegentlich terra firma. Ab und zu kommt sie zu uns auf die Erde und bringt uns Licht und geht dann wieder auf ihre Umlaufbahn.«

Wie klingt Sofia Gubaidulina?

Jetzt reinhören

Sofia Gubaidulina
Sofia Gubaidulina Sofia Gubaidulina © Peter Fischli

Wie ausgeprägt ist Ihre innerliche Vorstellung von einem Werk, ehe Sie sich daran machen, es zu komponieren? 

Wenn wir von einem ausgeprägten Konzept eines Werkes reden, also von seiner Form, so ist es mir bisher noch nie gelungen, meine ursprüngliche Vorstellung exakt umzusetzen. Sich von Zeit zu Zeit ergebende, neue Zusammenhänge innerhalb der konzipierten Formteile erforderten immer wieder Veränderungen. Und ich komme diesen Erfordernissen nach; das heißt die Intuition der Form war nicht klar ausgeprägt, sondern nur erwünscht. Wenn wir aber von der inneren Vorstellung von einem zukünftigen Werk reden, dann war diese bei mir fast immer sehr klar und faszinierend. Doch sie betraf bei mir so gut wie immer das Ende eines Werkes, nicht dessen Beginn.

Soweit ich es verstehe, geht es hier um die Klarheit des ersten Impulses, der sich entweder auf den Beginn eines Werkes oder auf sein Ende beziehen kann. Ich denke, das eine wie das andere ist weder gut noch schlecht. Vielmehr ist es ein und dasselbe: Die Klarheit des Impulses und dessen kompositorische Ausarbeitung bzw. die Vorstellung von dem endgültigen Ganzen und seine nachfolgende Ausarbeitung. Die Genauigkeit der Ausarbeitung ist dann eine Frage der Form, eine Frage der Konzeption. Hier zeigt sich entweder Erfolg (Gelingen) oder Misserfolg (Versagen). Es ist ein Versuch.

Welche Rolle spielt das Außermusikalische für Ihr Schaffen? 

Für mich ist Musik alles das, was klingt. Von dem Moment an, als die Welt erschaffen wurde, begann alles sofort zu klingen: Himmel, Sterne, Planeten, Pflanzen, Vögel, Tiere, Menschen. Alles begann zu klingen. Und das alles ist – Musik. Alle menschlichen Angelegenheiten, alle zwischenmenschlichen Beziehungen klingen ebenfalls. Alle äußerlichen Erscheinungen und inneren psychischen Zustände des Menschen klingen. Und bedürfen der Umsetzung. Ein Ton will Gestalt werden. Und diese Gestalt bilden alle künstlerischen Werke, die vom Menschen geschaffen werden. Architektur, Bildhauerei, Malerei, Poesie, Prosa – all dies ist der musikalische Schatz der Menschheitsgeschichte, weil all dies klingt. Und all dies ist Musik.

Aber wo ist dann das »Außermusikalische«, wenn schon das »Leben« als solches klingt? Mein Verstand ist nicht in der Lage, dieses Rätsel zu lösen. Ehrlicherweise muss ich gestehen: Ich weiß nicht, was »außermusikalisch« bedeutet. (Wenn behauptet wird, dass es »absolute« Musik und »programmatische« Musik gibt, so kann ich damit nichts anfangen.)

Beim Festival »Elbphilharmonie Visions« wird zeitgenössische Orchestermusik so kompakt und prominent aufs Programm gesetzt wie wohl in keinem anderen Konzerthaus auf der Welt – an neun Abenden erklingen 18 Werke von 18 Komponist:innen. Finden Sie das sinnvoll, oder halten Sie das für die falsche Strategie?

Ein großartiges Experiment, das Bewunderung verdient. Es verschlägt mir den Atem angesichts des unglaublichen Mutes, der Risikofreudigkeit, ja sogar Kühnheit dieses Unterfangens.

Es ist durchaus möglich, dass schon am zweiten Abend weniger Personen im Saal sitzen werden als Interpreten auf der Bühne. Doch selbst, wenn das Ergebnis nicht so überwältigend sein sollte wie die Idee selbst, bin ich davon überzeugt, dass diese Erfahrung extrem wichtig ist. Denn sie kann einen Präzedenzfall für die Zukunft schaffen: Selbst in diesem für solch eine Kunst äußerst schwierigen Moment der Geschichte ist es möglich, ein hohes Niveau der Kultur aufrechtzuerhalten und zu behaupten.

Was braucht die Neue Musik, um die Liebe des Publikums zu gewinnen? 

Diese Frage ist zu schwierig. Ich fürchte, es ist unmöglich, dieses Ziel zu erreichen.

Was wäre Ihr Traum vom Konzertleben – heute und in der nahen Zukunft? 

In der nahen Zukunft kann ich mir weder ein ideales noch ein ganz gewöhnliches Konzertleben vorstellen.

Wir stehen vor einem langen Weg eines unaufhaltbaren Krieges, wo es für die Kunst keinen legitimen Platz gibt. Das Konzertleben der ernsten Kunst kann nur ein Wunder retten.

Deutsche Übersetzung: Hans-Ulrich Duffek

Am Puls der Zeit

Mit dem Newsletter »cutting edge« über alle Konzerte mit zukunftsweisender Musik in der Elbphilharmonie auf dem Laufenden bleiben.

Die Musik von Sofia Gubaidulina bei »Elbphilharmonie Visions«

Mediathek : Weitere Beiträge

Video abspielen

: Elbphilharmonie Sessions: Pablo Barragán

Für eine ganz besondere »Elbphilharmonie Session« bringt Weltklasse-Klarinettist Pablo Barragán das Hamburger Mahnmal St. Nikolai zum Klingen.

Krieg und Frieden in der Musik

Wie spricht Musik vom Krieg? Und wie klingt Frieden? Ein Essay.

Video abspielen

: Elbphilharmonie Sessions: Julia Hagen

Die junge Star-Cellistin Julia Hagen erfüllt das Elbphilharmonie-Parkhaus mit Musik von Sofia Gubaidulina