Internationales Musikfest Hamburg 2024

Krieg und Frieden in der Musik

Wie spricht Musik vom Krieg? Und wie klingt Frieden? Ein Essay.

Text: Friedrich Geiger, 14.02.2024
 

Angenommen, Sie wären Komponistin oder Komponist und erhielten den Auftrag für zwei Stücke, von denen das eine »Krieg«, das andere »Frieden« heißen soll − wahrscheinlich wären Sie mit dem ersten schneller fertig. Der Krieg, seit jeher zu militärischen Zwecken eng mit Musik verbunden, besitzt eine unmissverständliche akustische Signatur, die seit den Anfängen der Kompositionsgeschichte immer wieder nachgebildet wurde.

Internationales Musikfest Hamburg

Höhepunkte zum Saisonfinale: Die großen Hamburger Orchester und Top-Gäste widmen sich für mehr als fünf Wochen dem Motto »Krieg und Frieden«.

Krieg komponieren

Spätestens mit der 1528 gedruckten, weithin bekannt gewordenen Chanson »La guerre« (La bataille de Marignan) des Renaissance-Komponisten Clément Janequin etablierte sich dann das Genre der so genannten Battaglia. Zu ihren Stilmitteln gehören Schlachtenlärm, Signale, Schüsse und ähnliche Kriegslaute. Über große Orchesterwerke wie Ludwig van Beethovens »Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria«, Piotr I. Tschaikowskys »Ouverture solennelle ›1812‹« oder Dmitri Schostakowitschs Sinfonien Nr. 7 und 8, die während des Zweiten Weltkriegs entstanden, erstreckt sich diese Tradition bis in die Gegenwart.

Man staunt über die vielfältigen Möglichkeiten der Zeit- und Raumkunst Musik, Konflikte darzustellen. Unterschiedliche Tonarten, Rhythmen oder musikalische Themen lassen sich miteinander konfrontieren, die sogar konkrete Parteien repräsentieren können, zum Beispiel durch Anlehnung an Nationalhymnen. Dramaturgische Modelle wie die von Beethoven mit der 5. Sinfonie etablierte Entwicklung »durch Nacht zum Licht« rufen die Assoziation eines siegreichen Kriegsverlaufs hervor. Herannahende Bedrohung kann durch anwachsende Lautstärke imaginiert werden, die militärische Sphäre durch entsprechende Instrumentation. So imitierte Joseph Haydn 1794 mit Pauke, Triangel, Becken und Großer Trommel im zweiten und vierten Satz seiner 100. Sinfonie so unüberhörbar eine Heereskapelle, dass der Beinamen »Militärsinfonie« eigentlich überflüssig ist.

Haydn: »Militärsinfonie« (Ausschnitt aus dem zweiten Satz)

Frieden komponieren – nur über Umwege?

Wie aber komponiert man den Frieden? Anders als das Getöse auf dem Schlachtfeld lässt er sich musikalisch nur schwer beschreiben, weil er keinen spezifischen Klang hat. Und definiert man ihn lediglich als Abwesenheit von Krieg, so kommt im Grunde jede Musik in Frage, die nicht gerade martialisch tönt.

Kein Wunder daher, dass die musikalische Gattungsgeschichte kein friedliches Pendant zur Battaglia kennt und stattdessen Umwege eingeschlagen wurden. So manche als »Friedensmusik« deklarierten Stücke sind im Grunde verkappte Battaglien: Sie umgehen das Problem, den Frieden zu vertonen, indem sie stattdessen das entscheidende Gefecht schildern, das den Krieg beendete.

Der Wunsch nach Frieden

Allenfalls im liturgischen Rahmen der Messe ließen sich einschlägige Abschnitte nennen, nämlich das »Et in terra pax« (»Und Friede auf Erden«) im »Gloria« (weiträumig ausgestaltet etwa in Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe) und das »Dona nobis pacem« (besonders dramatisch in Beethovens Missa solemnis). Diese Bitten wurden gelegentlich auch selbständig vertont − aber hier geht es eben, bei aller Eindringlichkeit, um den Wunsch nach Frieden, weniger um den Frieden selbst.

Beethoven: Dona nobis pacem (Missa solemnis)

Der Verlust des Friedens

Die musikalische Klage über den Verlust des Friedens und die damit verbundenen Schrecken ist ebenfalls ein solcher Umweg. Sie erreichte in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges einen Höhepunkt, den Sammlungen wie die »Musicalischen Friedens Seufftzer« von Johann Erasmus Kindermann (gedruckt Nürnberg 1642) oder die »Krieges-Angst-Seufftzer« von Johann Hildebrand (Leipzig 1645) dokumentieren. Aber auch dezidierter Protest gegen den Krieg fand in zahlreichen Werken, die Terror und Verbrechen anprangern und damit für den Frieden eintreten, erschütternden Ausdruck. So erinnert Bohuslav Martinůs Orchesterwerk »Memorial to Lidice«, das 1943 mitten im Zweiten Weltkrieg entstand, an die erbarmungslose Auslöschung des tschechischen Dorfes Lidice durch die Nazis wenige Monate zuvor und ruft mit seinen »Dies irae«-Anklängen zum Kampf um den Frieden auf.

Wie Martinů litten unzählige Musikschaffende selbst unter Krieg und seinen Auswirkungen, denen sie zum Opfer fielen oder vor denen sie ins Exil flohen. Olivier Messiaen schrieb 1940/41 als Kriegsgefangener in dem deutschen Lager Stalag VIII A in Görlitz sein »Quatuor pour la fin du temps« für die vier Instrumente, die dort aufzutreiben waren. Aktuell betroffen ist unter vielen anderen der weltbekannte russisch-ukrainische Komponist Vladimir Tarnopolski (*1955), der im April 2022 seine Professur in Moskau aufgeben und nach München flüchten musste, wo er gegenwärtig als Gastprofessor an der Hochschule für Musik und Theater lehrt.

»Quatuor pour la fin du temps«

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Olivier Messiaen
Olivier Messiaen Olivier Messiaen © Wikimedia Commons

Texte über den Frieden

Am deutlichsten lässt sich der musikalische Friede über einen entsprechenden Text konkretisieren, eine Option, die auch Arnold Schönberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem bewegenden Chorstück »Friede auf Erden« nach dem gleichnamigen Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer wählte. Schönberg glückte hier das Paradox einer monumentalen Miniatur, worin er durch planvolle Kontraste von Dissonanz und Konsonanz, von mehrstimmigen Passagen und einträchtigen Akkorden dem ewigen Zwist unter den Menschen das Ideal eines möglichen Friedens entgegenhielt.

In der Instrumentalmusik hingegen wird häufig klingende Natur als Friedenssymbol herangezogen. Georg Friedrich Händel reicherte 1749 den dritten, »La paix« betitelten Satz seiner berühmten »Feuerwerksmusik«, die den Aachener Frieden feiert, mit Assoziationen an Waldszenen und pastorale Idylle an. Und gegen Ende des Ersten Weltkriegs verlieh die Komponistin Nadia Boulanger ihrer Sehnsucht nach Ruhe und Frieden in »D’un matin de printemps« Gestalt, dem filigranen Klanggemälde eines Frühlingsmorgens.

Harmonie – die Kraft des Zusammenbringens

Zwar ist somit der Frieden selbst mit den deskriptiven Mitteln der Komposition kaum zu fassen. Entscheidend ist aber ein abstrakteres Potential, das in der Musik selbst liegt und sie befähigt, das Wesen des Friedens ganz direkt zu vergegenwärtigen. Wenn man den mittlerweile arg verschlissenen Begriff der Harmonie zu seinen etymologischen Wurzeln zurückverfolgt, bezeichnet er dort eine besondere Kraft. Sie entsteht, wenn Verschiedenes, Auseinanderstrebendes oder sogar Widerstreitendes zusammengespannt wird. Die altgriechische Mythologie formte diese Vorstellung zu Harmonia, der Göttin der Eintracht. Sie ging aus der Verbindung des Kriegsgottes Ares mit der Liebesgöttin Aphrodite hervor. Der Philosoph Heraklit erklärte dann das Wesen der Harmonie anhand der gespannten Saite beim Bogen und der Lyra, zog also schon vor rund 2500 Jahren ein musikalisches Beispiel heran. So lag es für die antiken Musiktheoretiker nahe, den Zusammenklang verschiedener Töne als Harmonie zu bezeichnen, was sich bekanntlich bis heute gehalten hat.

 

»Die schönste Harmonie entsteht durch Zusammenbringen der Gegensätze.«

Heraklit

 

So führt Musik uns immer neu vor Ohren, dass Gegensätzliches nicht unbedingt erbittert ausgefochten werden muss, sondern zu etwas Neuem zusammenfinden kann, das seine Energie gerade aus der Verschiedenheit bezieht. Der amerikanische Komponist Charles Ives bewies das mit seiner epochalen 4. Sinfonie, komponiert im Wesentlichen zwischen 1910 und 1916 für ein gigantisches Orchester, zwei Dirigenten, Chor, Fernensemble und Fernchor sowie im Saal verteiltes Schlagzeug. Ives führte hier ganz heterogene Schichten und alle möglichen Arten von Musik zu einer faszinierenden Klangwelt zusammen, die wir gerade wegen ihrer gleichzeitigen Verschiedenheit als stimmig empfinden. Aber auch die energetische, auseinanderstrebende Stimmen bündelnde Harmonik Bachs, die Kontrastdramaturgie der Sonatensätze Beethovens, die grotesken Scherzi Gustav Mahlers oder die individuellen Improvisationen einer Jazzband sind ästhetische Verhandlungen über die Kraft der Unterschiede.

Energie der Verschiedenheit

So kann Musik uns lehren, was den Frieden ausmacht: Er ist mehr als die Abwesenheit von Krieg, auch mehr als ungestörte Ruhe − er besitzt eine Dynamik. Es geht um die Kraft, die aus ausgetragenen Konflikten erwächst, um die Schönheit der Differenz und die Energie, die das Aufeinandertreffen von Gegensätzen erzeugt. Wirklicher Frieden ist daher nur in einer offenen Gesellschaft möglich, die Unterschiede nicht als Bedrohung, sondern als Chance sieht.

Solchen Frieden gilt es zu hüten und wachen Sinnes zu verteidigen. Denn auch die Feinde einer solchen Gesellschaft greifen gerne zu Musik, insbesondere, wenn sie von Krieg und Frieden handelt. Die betreffenden Werke senden packende, überzeugende Botschaften aus, gerade aufgrund der Kombination von starken Emotionen und Vieldeutigkeit. Doch ermöglicht diese Vieldeutigkeit auch Missbrauch. Vor dem Hintergrund der allerorten erkennbaren Strategie, eine autoritäre Agenda als »Widerstand« und legitimen »Kampf« gegen angebliche Unterdrückung auszugeben, werden einschlägige Kompositionen aus ihrem ursprünglichen historischen Kontext gelöst und propagandistisch umgedeutet.

Schostakowitsch: 7. Sinfonie »Leningrader«

Die Gefahr propagandistischer Umdeutungen

So beutet etwa das Putin-Regime Schostakowitschs Siebte, die so genannte »Leningrader Sinfonie«, spätestens seit dem Georgienkrieg 2008 systematisch für die eigenen Zwecke aus. Unter den entsetzlichen Umständen der Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht schrieb Schostakowitsch 1941 dem Werk den aufrüttelnden Appell zur Gegenwehr ein.

Unter Putin wurde die überwältigende Wirkung des Werkes propagandistisch vereinnahmt, um einen von großrussischer Ideologie getriebenen Angriffskrieg in einen Widerstandskampf gegen angebliche »Nazis« umzudeuten. Zahlreiche Aufführungen sollen nicht nur das russische Volk in diesem Sinn mobilisieren, sondern auch das Ausland von der Rechtmäßigkeit des Krieges überzeugen. Daher empfiehlt sich dringend, bei einem existentiellen Thema wie Krieg und Frieden sehr genau hinzuhören, wer mit welcher Intention die starken Gefühle weckt, die solche Werke in uns auslösen.

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