Gerald Clayton

Gerald Clayton im Portrait

Ein Schritt zurück, der Blick nach vorn: Der Pianist verbindet die Generationen und Stile zwischen groovendem Nu-Jazz und klassisch inspirierter Kammermusik.

Wer an Kalifornien und Musik denkt, hat die Beach Boys im Kopf, vielleicht noch The Mamas & The Papas, die Red Hot Chili Peppers oder die Westcoast-Rapper um Snoop Dogg. Aber Jazzmusiker? Da dürften selbst Kenner ins Grübeln kommen. Dabei wuchs das Kontrabass-Genie Charles Mingus in Los Angeles auf, und auch die Saxofonisten Eric Dolphy sowie der 50 Jahre später zu Ruhm gekommene Kamasi Washington stammen von dort. Und dann ist da noch die Familie Clayton. Die Brüder John und Jeff wurden in den Fünfzigern in Venice Beach geboren, in Baseballwurfweite vom Strand entfernt. Jeff wurde ein gefragter Saxofonist, John ein geschätzter Kontrabassist, der sich bald auch als Arrangeur für Popstars einen Namen machte. Sein Sohn sollte später die gleiche Berufung verspüren. Sein Name: Gerald Clayton. Der Pianist hat als Interviewtermin 7 Uhr morgens Pacific Daylight Time vorgeschlagen. Die frühe Uhrzeit hat nichts mit einem übervollen Terminkalender zu tun: »Ich wollte einfach gleich morgens surfen gehen und für das Interview keine Pause einlegen müssen.«

Gerald Clayton
Gerald Clayton © Blue Note

Clayton, der 1984 während eines Auslandsaufenthaltes seines Vaters im niederländischen Utrecht geboren wurde, lebt seit ein paar Jahren wieder am Pazifik. Sein Haus liegt in El Segundo, unweit des Ozeans, südlich des riesigen Flughafens von Los Angeles. In der Mega-City machte er einen Klavier-Bachelor, ehe er 2007 nach New York City zog. Die unumstrittene Welt-Hauptstadt des Jazz ist für junge Musiker ein Sehnsuchtsziel – wenn auch eines mit knallharten Regeln: Wohl nirgendwo sonst treten selbst gestandene Profis für 50 Dollar Gage auf. Clayton behauptete sich. An der Manhattan School of Music war er Schüler von Kenny Barron, der Respekt der Szene wuchs. Doch der Erfolg kam erst, als er, wie schon sein Vater, über den Jazz hinaus dachte. Sein lyrisches Spiel erregte die Aufmerksamkeit erfolgreicher Crossover-Künstler, und so trat Gerald Clayton bald mit Diana Krall und Michael Bublé auf.

Offen für Neues

Wichtiger war ihm jedoch die enge Zusammenarbeit mit einem 2018 früh verstorbenen Trompeter, der es wie kein zweiter verstand, virtuosen Hard Bop mit Funk, R&B und Hip-Hop zu verbinden: Roy Hargrove. »Roy hat nie einen Song vergessen, den er einmal gelernt hat, selbst 20 Jahre später nicht«, erinnert sich Clayton. »Er hatte riesige Ohren! Und er erwartete von allen, die mit ihm spielten, mit seinem Tempo mitzuhalten. I’m gonna play it once – open up your ears! So war Roy, und dieses Level an Musikalität durfte ich drei Jahre lang erleben. Roy hat dieses Prinzip gelebt: Stell dir immer vor, es wäre die letzte Show, die du spielst.«

Seine Offenheit für verschiedene Genres verschaffte Gerald Clayton auch die Bekanntschaft einer weiteren Jazz-Größe: Seit 2013 ist er fester Sideman beim Saxofonisten Charles Lloyd; im vergangenen Jahr ist er mit dieser Ikone der Woodstock-Generation auch schon in der Elbphilharmonie aufgetreten. »Bei manchen Musikern geht es beim Spielen nicht darum, sich mit Soli abzuwechseln«, kommentiert Clayton die Zusammenarbeit mit seinem 84-jährigen Mentor. »Es ist vielmehr ein gemeinsamer Tanz. Nach jeder Show mit ihm gehe ich von der Bühne und frage mich: Was zum Teufel war das gerade? Ich fühle mich wie in Trance, ich habe keine Ahnung, was passiert ist.«

Charles Lloyd mit Gerald Clayton

Nun ist Charles Lloyd auch einer der Gäste auf Claytons aktuellem Album »Bells on Sand«. Die Glocke im Titel sieht der Kalifornier als Metapher für das Leben, den Sand als Sinnbild für eine Umwelt, in der alles in unaufhörlicher Bewegung ist: »Alles was uns umgibt, auch unsere Songs und Geschichten, unterliegt stetiger Veränderung. Wer nach neuen Verbindungen sucht, sollte einen Schritt zurücktreten. Die Dinge aus dieser weiteren Perspektive betrachten. Die Lehren aus der Vergangenheit berücksichtigen, um die Gegenwart so zu leben, dass sie der Zukunft dient.«

Für die Zukunft stehen dabei junge Musiker wie die portugiesische Sängerin Maro und der Schlagzeuger Justin Brown. Gegenwart und Vergangenheit wiederum werden auf dem Album von Vater John repräsentiert, der auf drei Songs sein charakteristisches Bogenspiel auf dem Kontrabass einbringt. »Mein Vater und ich spielen zusammen, seit ich ein kleines Kind bin. Ich musste ihn aus musikalischen und aus persönlichen Gründen einladen. Dass er auf dem Album dabei ist, ist eigentlich keine große Sache – und irgendwie dann doch.«

Gerald Clayton spielt »My Ideal 1« aus seinem Album »Bells On Sand«

»Bells on Sand« ist ein überraschend zurückhaltendes Statement – das selbstbewusst minimalistische Programm eines Musikers, der schon lange niemandem mehr etwas beweisen muss. Mit »Life Forum« zeigte Clayton 2013 seine Nähe zum Pop, für den Hard Bop stand die darauf folgende Quintett-Platte »Tributary Tales«. Der Gerald Clayton des Jahres 2022 traut sich auch an die klassischen Werke des katalanischen Komponisten Frederic Mompou (1893–1987) heran, dazu kommen meditative Duo-Songs, Solo-Einspielungen und groovender Nu-Jazz im Trio. »Wenn ich Songs schreibe, habe ich nicht das Gefühl, den Prozess kontrollieren zu können«, sagt der Pianist. »Mein Spiel ist nicht geplant, es ist eher so: Das ist die Musik, lass mich ihr dienen, so gut ich es kann.«

Im Jazz-Himmel

Am Schluss von »Bells on Sand« steht eine weitere Geste in Richtung Vergangenheit: »There Is Music Where You’re Going, My Friends« ist eine Komposition seines 2020 verstorbenen Onkels Jeff. Im Internet findet sich das Video eines Auftritts aus dem Jahr 1996, den der Saxofonist allen verstorbenen Jazzern widmete. Jeff Clayton beteuert da, er glaube an einen Jazzhimmel, in dem auch ein Jazzclub mit bis in alle Ewigkeit währenden Jamsessions existiere. Der Neffe interpretiert nun diese Ballade mit viel Gospel-Emphase ganz allein am Flügel – ein schlichtes Statement, ganz ohne Schnörkel oder Virtuosengehabe.

Ob solo oder in der Trio-Besetzung, mit der er im März 2023 in Hamburg auftritt: Das freie Improvisieren liegt dem Pianisten. Beim Versuch, diese für den Jazz so essenzielle Kunst zu erklären, bedient sich Gerald Clayton einer Metapher, die mit seiner neuen alten Heimat Kalifornien untrennbar verbunden ist: »Klavier spielen ist wie Surfen: Du legst los und hoffst, ein paar Wellen zu erwischen.«

Autor: Jan Paersch, Stand: 15.02.2023

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