Esa-Pekka Salonen

»Wow, so kann das auch klingen!«

Der Komponist und Dirigent Esa-Pekka Salonen über sein »Multiversum« in der Elbphilharmonie, die Schwarmintelligenz bei Orchestern und die Tücken des klassischen Kanons.

Dirigierender Komponist oder komponierender Dirigent: Wie man es auch dreht, Esa-Pekka Salonen gehört zu den »echten Doppelbegabungen der Musikwelt«, wie in der Fachpresse immer wieder zu lesen ist. Im Interview spricht er darüber, was ein Orchester mit einem Schwarm Makrelen gemeinsam hat, wie es ist, die eigenen Stücke zu dirigieren und warum jetzt eine gute Zeit ist, um Komponist zu sein.

»Die besten Erfahrungen mit meinen eigenen Werken habe ich gemacht, wenn andere sie dirigiert haben.« :Esa-Pekka Salonen im Gespräch mit Bjørn Woll

Herr Salonen, wen gab es eigentlich zuerst, den Komponisten oder den Dirigenten Salonen?

Ganz klar den Komponisten! Ich habe mit elf Jahren begonnen, Musik zu schreiben. Zwar noch mit erheblichen Defiziten, was die Regeln anging. Aber ich habe damals schon gemerkt, dass sich das Komponieren sehr natürlich für mich anfühlt. Ich glaube, dass jeder Komponist Gefallen daran findet, neue Welten zu erschaffen: ein eigenes Universum, grenzenlos und voller Möglichkeiten. Als kleiner Junge war das Komponieren ein Refugium für mich, eine Zuflucht vor der realen Welt, die ich manchmal als problematisch empfunden habe. Diesen ursprünglichen Impuls zum Schreiben von Musik vergessen wir später oft, wenn wir professionelle Komponisten sind, dann beschäftigen wir uns mit Kompositionsaufträgen oder Abgabefristen.

Wie sieht das heute aus, definieren Sie sich eher als Komponist oder als Dirigent?

Meistens koexistieren diese beiden Teile meiner Persönlichkeit friedlich nebeneinander. Manchmal gibt es aber auch Zwist zwischen den beiden, wenn ich zum Beispiel eine Serie von Konzerten dirigiere und denke, dass ich jetzt besser komponieren sollte. Weitaus schwieriger ist der Moment, in dem ich vom Dirigenten zum Komponisten werde, was viel mit dem Energie-Level der beiden Tätigkeiten zu tun hat. Zu dirigieren setzt Adrenalin frei und verlangt intensive Interaktion. Ein Konzert ist sozial unglaublich fordernd, nicht nur mit den Musikern, sondern auch mit dem Publikum. Von diesem Erregungs-Level zur Stille und Entschleunigung des Komponierens zu finden, ist nicht leicht, denn das Komponieren ist, neben dem Schreiben von Romanen oder Gedichten, vermutlich die einzige Disziplin, bei der der Künstler völlig alleine ist. Es dauert immer einen Moment, aber dann fühle ich mich in dieser Abgeschiedenheit sehr wohl.

Esa-Pekka Salonen Esa-Pekka Salonen © Minna Hatinen / Finnish National Opera and Ballet

»Ich finde es befreiend, nicht zwangsläufig dem Mainstream entsprechen zu müssen. So gesehen ist es gerade eine ziemlich gute Zeit, Komponist zu sein«

Ihr Kollege George Benjamin zieht sich zum Komponieren in die totale Isolation zurück, ohne Kontakt zur Außenwelt. In welcher Umgebung komponieren Sie am liebsten?

George ist wirklich extrem! Er hat ein kleines Häuschen in seinem Garten, in dem nichts anderes steht als ein Tisch, nichts, das ihn ablenkt. Bei mir ist das anders, ich arbeite eher in Schüben. Ich schreibe für eine Weile, dann mache ich etwas anderes, trinke einen Kaffee, gehe spazieren oder trainiere. Ich kann nicht in völliger Isolation komponieren, ich brauche Impulse von außen. Isolation kann auch dazu führen, dass man sich gar nicht aller Möglichkeiten bewusst ist, weil der eigene Fokus das Blickfeld einengen kann.

Im Rahmen des Hamburger »Multiversums« dirigieren Sie mit »Gemini« und »Karawane« zwei eigene Werke. Wie erleben Sie den Perspektivwechsel, wenn Sie vom Komponisten eines Stücks zu dessen Dirigenten werden?

Um meine eigenen Werke zu dirigieren, muss ich erst mal einen Schritt zurücktreten und sie sozusagen von außen betrachten. Besonders die erste Probe ist ein seltsamer Moment: Alles ist irgendwie mezzoforte, weil noch niemand weiß, wo die Reise hingeht, es gibt noch keinen Kontext, alles ist noch unsortiert. Oft stimmt zum Beispiel die Dynamik noch nicht. Als junger Dirigent habe ich dann direkt korrigiert und dachte, dass ich mich beim Schreiben verkalkuliert habe. Mit dem Alter habe ich aber gelernt zu warten und den Musikern zu vertrauen, denn Musiker sind erstaunlich. Selbst wenn das Stück komplex ist, erfassen sie intuitiv die Struktur. Spätestens in der zweiten Probe entwirren sich die einzelnen Stimmfäden, es beginnt zu leben, zu atmen. Das ist wie bei einem Schwarm Makrelen, der aus hunderten Individuen besteht, die sich scheinbar wie ein einziger Organismus bewegen, obwohl keiner weiß, wer der Anführer ist. Eine solche Schwarmintelligenz gibt es auch bei Orchestern. Der muss ich als Dirigent vertrauen können! Und nicht nur als Dirigent, auch als Komponist. Gerade die zeitgenössische Musik leidet unter einer Art Über-Notation: Bei jeder Note stehen da mehrere Vortragsbezeichnungen. Dieser inflationäre Gebrauch führt zu nichts! Ich gehe das Risiko lieber in die andere Richtung ein, denn es kann zu erstaunlichen Ergebnissen führen, wenn Musiker ein bisschen Spielraum bekommen und der Komponist nicht krampfhaft versucht, alles zu kontrollieren.

Sind Sie der ideale Dirigent für Ihre eigenen Werke?

Das muss nicht so sein. Auch wenn ich es bevorzuge, die erste Aufführung eines Stücks selbst zu dirigieren, weil ich dann direkt Korrekturen vornehmen kann. Darüber hinaus gebe ich gerne zu, dass ich die besten Erfahrungen mit meinen eigenen Werken gemacht habe, wenn andere sie dirigiert haben. Manchmal kommen da Aspekte zu Tage, die mich selbst überraschen. Das sind beglückende Momente, wenn ich realisiere: Wow, so kann das auch klingen!

Wie sehr sind Sie als zeitgenössischer Komponist mit der Tradition verbunden? Ihr Cellokonzert etwa ist ja an sich schon ein Beitrag zu einer traditionellen Gattung und folgt auch der traditionellen Satzfolge schnell-langsam-schnell.

Gerade habe ich ein Konzert mit Werken von Hannah Kendell, Unsuk Chin und einer Beethoven-Sinfonie dirigiert. Als nächstes steht ein Konzert mit Debussy, Messiaen und dem Flötenkonzert von Kaija Saariaho an. Ich trage also ständig Musik mit mir herum. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass ich als Komponist einer Tradition folgen möchte, selbst wenn ein Stück wie das Cellokonzert in seiner äußeren Form daran erinnert. Allerdings ist Tradition auch Teil des Ökosystems, in dem wir existieren. Schon die Vorstellung, dass ich ein neues Werk schreibe und damit gleichsam bei null beginne, ist irrsinnig. Wie könnte ich jemals Musik, die ich erlebt habe, ungehört machen? Sie ist in  mir und beeinflusst mich. Wir sind ständig von Musik umgeben, oft sogar, ohne dass wir es merken oder darüber nachdenken, beim Einkaufen oder in einer Bar. Vor einiger Zeit saß ich in einem Restaurant in Paris, und im Hintergrund lief der Song einer Post-Grunge Band. Ich habe damals eher unbewusst den Basslauf auf einer Serviette notiert – und später in »Pollux« verarbeitet, das neben »Castor« Teil von »Gemini« wurde.

Esa-Pekka Salonen Esa-Pekka Salonen © Benjamin Suomela

»Als kleiner Junge war das Komponieren ein Refugium für mich, eine Zuflucht vor der realen Welt.«

Blicken wir in die Geschichte, finden wir etliche Komponisten, die in und mit ihren Werken auf ihre Zeit reagiert haben. Wie ist das bei Ihnen?

Das ist eine schwierige Frage. Da müssten wir erst einmal definieren, was das eigentlich bedeutet: unsere Zeit? Wollte ich sie mit nur einem Wort beschreiben, würde ich »Zersplitterung« wählen. Für mich hat diese Entwicklung schon vor einigen Jahrzehnten begonnen – mit dem Kabelfernsehen. Zuvor gab es in Europa das Monopol der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in Finnland etwa hatten wir nur zwei TV-Kanäle. Wenn da ein Theaterstück übertragen wurde, haben das zwangsläufig viele Menschen gesehen, und am nächsten Tag war das ein Thema, im Supermarkt, bei der Arbeit, mit Freunden. Diese Gemeinschaftserlebnisse haben auch eine gemeinsame Identität geschaffen. In dem Moment aber, in dem jeder Zugriff auf 200 verschiedene Programme hatte, sind unsere kulturellen Erlebnisse immer stärker zersplittert. Gleichzeitig finde ich es aber auch befreiend, nicht zwangsläufig dem Mainstream entsprechen zu müssen. So gesehen ist es gerade eine ziemlich gute Zeit, Komponist zu sein, in dem Sinne, dass es nicht mehr länger diese strikten Schulen gibt wie damals etwa in Darmstadt, deren Vorgaben man entsprechen musste, um Erfolg zu haben. Heute gibt es vielfältigere Möglichkeiten, mit Musik Menschen anzusprechen. Wenn ich als Komponist etwas finde, was mich beschäftigt, was mich bewegt, stehen die Chancen nicht schlecht, dass es anderen damit genauso geht.

Hilfreich könnte dabei sein, dass viele Ihrer Werke klangsinnlich sind. Ist Ihnen das wichtig?

Absolut – und Körperlichkeit ebenso. Ich liebe die Resonanz eines großen Orchesters und die gewaltige Intensität, die diese erzeugen kann. Das hatten wir in der Zeit der strengen Avantgarde fast verloren, bis in die Sechzigerund Siebzigerjahre hinein. Das war ein wirkliches Dilemma für mich, weil ich als junger Dirigent sehr gerne Strauss, Bruckner und Strawinsky dirigiert habe, während mir in meiner eigenen Musik dieser große Klang quasi »verboten« war.

Beim »Multiversum« in der Elbphilharmonie wird Ihr »Wing on Wing« zu hören sein, das Sie für die Disney Concert Hall in Los Angeles komponiert haben, die wiederum mit Yasuhisa Toyota denselben Akustiker hat wie die Elbphilharmonie. Wie stark ist der Einfluss der Akustik eines Saals auf Ihre Arbeit als Dirigent?

Als Künstler sind wir abhängig von der Akustik eines Saals. Im besten Fall wird der Saal zu unserem Freund oder sogar zu einem weiteren Instrument. Im schlechtesten Fall müssen wir gegen den Saal anspielen, das gibt es auch. Der Klang der Disney Hall wurde für mich dabei so etwas wie ein Maßstab, weil ich dort so viel Zeit verbracht habe. Wenn ich am Schreibtisch sitze und mir einen Orchesterklang in meinem Kopf vorstelle, dann ist es der Klang der Disney Hall. Als ich das erste Mal in die Elbphilharmonie kam, fühlte ich mich gleich zu Hause, weil sie in vielen Elementen der Disney Hall sehr ähnelt.

Komponisten erleben es ja nicht allzu häufig, ihre Werke in verschiedenen Sälen hören zu können: Von den meisten Uraufführungen gibt es keine Folgeaufführungen, und so haben diese Stücke keine Chance, im Kanon verankert zu werden.

Das ist ein großes Problem! Aber ich sträube mich auch gegen den Begriff Kanon. Wir betrachten das immer als etwas Abgeschlossenes, aber das stimmt nicht: Der klassische Kanon verändert sich stetig! Auch den Begriff des Meisterwerks finde ich irritierend: Was vor 150 Jahren als Meisterwerk galt und viel gespielt wurde, kann heute längst von den Spielplänen verschwunden sein, die Sinfonien von Raff oder Goldmark zum Beispiel. Was wir als Interpreten tun müssen, ist neue Musik zu spielen und ihr damit zumindest eine Chance zu geben, Einzug ins Repertoire zu halten. Denn nur durch diese Bereicherung kann die Musik lebendig bleiben. Wenn wir beim klassischen Kanon aber auf einem unflexiblen, festgezurrten Konstrukt bestehen, wird die Distanz zwischen der historischen Relevanz dieser Werke und uns irgendwann unüberbrückbar.

Ist es für Sie ein Vorteil, dass Sie als Dirigent der Advokat Ihrer eigenen Werke sein können?

Das stimmt natürlich. Aber ich versuche stets, vorsichtig zu sein und meine Position dabei nicht auszunutzen. Ich dirigiere zum Beispiel deutlich mehr Musik anderer lebender Komponisten als meine eigene. Da halte ich mich eher zurück und überlasse sie meinen dirigierenden Kollegen, so wie hier in Hamburg Alan Gilbert und Dima Slobodeniouk.

 

Das Gespräch führte Bjørn Woll. Stand: 5.1.2022

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