Sir John Eliot Gardiner

Sir John Eliot Gardiner im Portrait

Der legendäre Dirigent wird achtzig und zeigt in Hamburg, was er bis dato über Bach und Brahms herausgefunden hat.

Als John Eliot Gardiner vor bald achtzig Jahren, am 20. April 1943, in der Grafschaft Dorset im Südwesten Englands zur Welt kam, hing in dem Haus, in dem er aufwuchs, ein Bild von Johann Sebastian Bach. Nicht irgendeine Replik eines Gemäldes, sondern das berühmte Bach-Porträt von Elias Gottlob Haußmann, von dem es (was nicht allzu bekannt ist) zwei Versionen gibt, eine von 1746 und eine zwei Jahre jüngere. Beide zeigen den alten Meister mit gepuderter Perücke und einem Notenblatt in der Hand und unterscheiden sich im Wesentlichen nur durch ihren Erhaltungszustand. Das etwas besser erhaltene zweite Porträt war im Familienbesitz eines jüdischen Musiklehrers aus Breslau, der zu Beginn des Krieges nach England geflohen war und das Bach-Bild der befreundeten Familie Gardiner zur Aufbewahrung anvertraut hatte.

Johann Sebastian Bach
Johann Sebastian Bach © Elias Gottlob Haussmann/Wikimedia Commons

Eine Lebensaufgabe

So kam es, dass der kleine John Eliot seine Kindheit »unter den strengen Augen des Kantors« verbrachte. »Jeden Tag, bis ich zehn Jahre alt war, habe ich das Porträt angeschaut. Ich fand es ein bisschen pädagogisch, ein bisschen fremd, gleichzeitig habe ich als Knabe die Musik von Bach auswendig gelernt. Und es dauerte eine Weile, bis ich Bachs Blick und die Freude in seiner Musik in Einklang bringen konnte. Aber mittlerweile habe ich für mich eine Lösung gefunden.« »Eine Lösung«, das klingt nach typisch britischem Understatement. Denn das Werk und das Wesen Bachs zu ergründen, ist seitdem so etwas wie Gardiners Lebensaufgabe. Heute gilt der Dirigent vielen als der bedeutendste Bach-Interpret überhaupt, zumindest in Bezug auf dessen Vokalwerk. Kaum einer, der tiefer und umfassender in die Musik des Barockkomponisten eingetaucht wäre.

Doch nicht nur das: Gardiner gründete mehrere Ensembles und hatte als Pionier der historischen Aufführungspraxis enormen Einfluss auf die Musikwelt. Mittlerweile ist der längst in den Ritterstand erhobene Sir John einer der letzten Vertreter jener großen Generation von Pult-Stars, die diese spezielle, mitunter ehrfurchterregende Aura umgibt – auch wenn er selbst einmal zu Protokoll gab: »Die Zeit für despotische Dirigenten ist zum Glück lange vorbei.«

VOM KLANG GELEITET

Gardiners Kindheit war nicht nur von den strengen Augen Bachs bestimmt; auch das akademisch-intellektuelle Umfeld der Familie prägte ihn. Der Großvater war einer der bedeutendsten Ägyptologen seiner Zeit, der Vater ein Pionier der Bio-Landwirtschaft, der sich nebenbei für die Wiederbelebung von englischen Volkstänzen einsetzte. Noch heute betreibt Gardiner selbst einen Bio-Bauernhof mit 100 Rindern und 900 Schafen. Auch die Musik spielte eine große Rolle in seinem Elternhaus: »Ich hatte das Glück, in einer Familie von ambitionierten Hobbymusikern aufzuwachsen, für die Musik einfach zum täglichen Leben gehörte. Es war ganz selbstverständlich, dass man sang und Instrumente spielte.«

So konnte er bereits als kleiner Junge die Sopranpartien von Bachs Motetten auswendig singen, was neben seinem deutschen Kindermädchen der Grund für sein nahezu perfektes Deutsch ist. Außerdem lernte er Klavier und Geige und wechselte später auf die Bratsche.

Der Monteverdi Choir wird geboren

Zunächst begann Gardiner jedoch ein Geschichtsstudium am King’s College in Cambridge. Seine Leidenschaft für die Musik ließ allerdings nicht nach, und so nahm er im dritten Studienjahr eine Auszeit und sein erstes ehrgeiziges Großprojekt in Angriff: eine Aufführung von Claudio Monteverdis »Marienvesper«, die er seit seiner Kindheit kannte. Schon damals von genauen Klangvorstellungen geleitet, begab er sich auf die Suche nach Musikern und Sängern, mit denen er diese Vorstellungen umsetzen konnte.

Es war die Geburtsstunde des Monteverdi Choir, in dem Gardiner zu diesem Zeitpunkt eher einen »Anti-Chor« sah – »als Gegenentwurf zum gesitteten, verschmelzenden Wohlklang, der zu meiner Zeit für den Chor des King’s College charakteristisch war«. Die Aufführung im März 1964 war ein Achtungserfolg. Vor allem aber bestärkte sie Gardiner darin, sich fortan ganz auf das Dirigieren zu konzentrieren.
 

»Uns blieb nur eines: ein Neuanfang mit originalen oder nachgebauten Barockinstrumenten.«

Sir John Eliot Gardiner

 

Er setzte seine musikalischen Studien in London fort und zog anschließend nach Paris, um bei Nadia Boulanger zu studieren – jener bedeutendsten Musikpädagogin des 20. Jahrhunderts, bei der unter anderem auch Astor Piazzolla und Philip Glass ihr Handwerk lernten. Boulanger war zu diesem Zeitpunkt schon über 80 und fast blind, »aber die Ohren waren fantastisch präzise«, erinnert sich Gardiner, der an die zwei Jahre in ihrer Klasse durchaus zwiespältig zurückdenkt: »Sie war sehr, sehr streng, sie hat mir wirklich wehgetan. Aber es war nötig, und ich bin heute sehr dankbar.« Zurück in England, gründete er 1968 das Monteverdi Orchestra (aus dem zehn Jahre später die English Baroque Soloists hervorgingen), das zunächst, wie damals üblich, auf modernen Instrumenten spielte.

Für Gardiner, der weiterhin nach seinem barocken Klangideal suchte, wurde dies zunehmend zum Problem: »Ich war an einen Punkt gelangt, an dem ich in meinem Bemühen, jene Klangwelt zu kreieren, die ich suchte, nicht mehr weiterkommen konnte. Uns blieb nur eines: ein Neuanfang mit originalen oder nachgebauten Barockinstrumenten.«

Sir John Eliot Gardiner
Sir John Eliot Gardiner © Sim Canetty-Clarke

Weg mit der Soße!

Gardiner war zwar nicht der erste, der Musik mit Instrumenten aus ihrer jeweiligen Entstehungszeit aufführte (vor ihm taten dies bereits Nikolaus Harnoncourt in Österreich und der Niederländer Gustav Leonhardt), doch war er damit seinerzeit noch immer eine große Ausnahme. Und er war derjenige, der die historische Aufführungspraxis auf die Werke der Klassik und Romantik ausweitete, um sie von der »Karajan-Soße« zu befreien, wie er es einmal in einem Interview beschrieb.

Revolutionärer Klang

Zu diesem Zweck rief Gardiner anlässlich des 200. Jahrestags der Französischen Revolution 1989 noch ein weiteres Orchester ins Leben: das Orchestre Révolutionnaire et Romantique, das ebenso wie seine anderen Ensembles zunächst misstrauisch beäugt wurde. »Die Leute haben eine Vorstellung, wie ein Orchester zu klingen hat – und da kamen wir: wirklich als Pioniere, die versuchten herauszufinden, wie Beethoven, Berlioz oder Schumann im Kontext ihrer Zeit geklungen haben könnten. Das war eine ganz neue und radikale – tatsächlich revolutionäre – Herangehensweise an die Musik des 19. Jahrhunderts.«

Mit seinen verschiedenen Ensembles konnte Gardiner im Laufe der Zeit zahlreiche vielbeachtete Großprojekte umsetzen – meist zu besonderen Anlässen. So brachte er 2017 zum 450. Geburtstag Monteverdis dessen drei überlieferte Opern als Zyklus in mehreren Städten auf die Bühne. 2019, zu Hector Berlioz’ 150. Todestag, spielte er sich allerorts durch das Kernrepertoire des französischen Romantikers. Seine wichtigste musikalische Unternehmung jedoch fand im Jahr 2000 statt.

Ein besonderes Bach-Projekt

Zu Bachs 250. Todestag führte Gardiner innerhalb eines Jahres sämtliche Bach-Kantaten auf, rund 200 an der Zahl. Diese »Bach Cantata Pilgrimage« führte ihn und seine Ensembles durch ganz Europa und die USA. Und sie brachte ihm die Person Bach ein Stückchen näher: »Endlich hatte ich einen möglichen Hinweis auf die Lösung des Rätsels gefunden, wie diese vor Energie und Einfallsreichtum sprühende Musik unter der Perücke jenes teilnahmslos wirkenden Kantors entstehen konnte, dessen Porträt seit meiner Kindheit mein Bild von ihm als Mensch geprägt hat.«

ECKEN UND KANTEN

Bei klassischen Sinfonieorchestern hingegen eckte Gardiner mit seinem Ehrgeiz und seinen ambitionierten Vorstellungen auch immer wieder einmal an. Seine Posten als Chefdirigent unter anderem in Vancouver und an der Oper in Lyon waren zwar nicht ohne Erfolg, blieben aber eher kurze Episoden seiner Karriere.

Zusammenarbeit mit dem NDR Sinfonieorchester

Fast vergessen ist heute, dass er Anfang der Neunziger für drei Spielzeiten auch das NDR Sinfonieorchester (das heutige NDR Elbphilharmonie Orchester) leitete. Eine Zeit, auf die man in Hamburg mit gemischten Gefühlen zurückschaut. So erinnert sich der Erste Konzertmeister Stefan Wagner: »Damals war es – anders als heute – ein Novum, dass ein Dirigent aus der Szene der historischen Aufführungspraxis die Leitung eines großen traditionellen Rundfunksinfonieorchesters übernimmt.

Auch auf der Orchester-Webseite liest man von einem »arbeitswütigen Perfektionisten, der unter Zeit- und Erfolgsdruck unduldsam werden konnte«, aber ebenso von einem »freundlichen, humorvollen Menschen«. Den Vertrag beendete Gardiner schließlich ein Jahr früher als geplant. Dennoch sieht er die Zeit im Rückblick als Gewinn: »Das Orchester und ich haben hart und, wie ich glaube, wirklich erfolgreich gearbeitet, und unsere Konzert- und Schallplattenaufnahmen beweisen es.«

Gardiner dirigiert das NDR Sinfonieorchester (1989): Schumanns Zweite Sinfonie

Zun 80. Geburtstag

Wenn Gardiner rund um seinen 80. Geburtstag im Frühling 2023 für insgesamt drei Konzerte nach Hamburg zurückkehrt, ist er sowohl mit seinen eigenen Ensembles als auch als Gastdirigent eines großen Sinfonieorchesters zu erleben: Mit dem Concertgebouworkest führt er die vier Sinfonien von Johannes Brahms auf, der ihm nicht nur am Herzen liegt, »weil er eine so ausdrucksvolle und leidenschaftliche Musik geschrieben hat«, sondern auch, weil er »ein Forscher war, der sehr viel selbst transkribiert und dirigiert hat. Einer der ersten Historiker unter den Komponisten«. Das passt zu Gardiner, dem wohl größten Historiker unter den Dirigenten.

Und damit noch einmal zurück zu Johann Sebastian Bach. 2013 veröffentlichte Gardiner sein sehr persönliches Buch »Bach. Musik für die Himmelsburg« – auch so ein Großprojekt, in dem der »lebenslange Bach-Student«, wie er sich selbst darin bezeichnet, auf rund 700 Seiten den Versuch unternimmt, »den Menschen über sein Werk kennenzulernen«. Es ist ein weiterer Baustein auf dem Weg, die Person Bach mit seiner Musik in Einklang zu bringen.

 

Text: Simon Chlosta; Stand 15.11.2022

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