Barbara Hannigan

»Ich muss frei sein«

Barbara Hannigan über ihre Doppelrolle als Sängerin und Dirigentin, ihr Streben nach Leichtigkeit und die Wahrhaftigkeit ihrer drei Katzen.

Barbara Hannigan passt in keine Schublade und zeigt, wie man als Künstlerin einen ganz eigenen, individuellen Weg finden kann. Statt sich an den etablierten Mechanismen des Musikmarkts zu orientieren, verwirklicht sie unbeirrt ihre eigenen Ideen und folgt dabei ihrer inneren Stimme. »Meine drei Katzen sind da eine große Inspiration für mich«, erzählt sie lachend im Interview, »sie sind sich selbst und ihren Bedürfnissen gegenüber immer wahrhaftig.«

Alleskönnerin

Außergewöhnlich ist Hannigans Laufbahn, die mittlerweile in der Bretagne lebt, in vielerlei Hinsicht. Da ist zum einen die ausgeprägte Leidenschaft für Neue Musik, die sie zu einer geradezu exemplarischen Interpretin zeitgenössischer Werke macht, egal wie schwierig diese auch sein mögen. Mit 17 Jahren sang die Sopranistin ihre erste Uraufführung, bis heute bringt sie es auf die unglaubliche Anzahl von fast 100 Werken, die sie (mit) aus der Taufe gehoben hat, darunter George Benjamins Opern-Welterfolg »Written on Skin« (2012), Brett Deans »Hamlet«-Vertonung (2017) und »Die Schneekönigin« von Hans Abrahamsen (2018), der schon den berückend schönen Orchesterliederzyklus »Let me tell you« (2013) für sie geschrieben hat.

Außergewöhnlich ist zudem die Verbindung von Singen und Dirigieren, die bei Barbara Hannigan zu einer fast schon neuen Kunstform miteinander verschmelzen, sich gegenseitig durchdringen und befruchten. Ihre Auftritte lassen sich daher am besten als Performance bezeichnen, als eine Art Gesamtkunstwerk.

Interview

Das Publikum der Elbphilharmonie erlebt Sie bei einer Portraitreihe in den nächsten Monaten als Sängerin, Dirigentin und Performerin – als was sehen Sie sich selbst?

Wenn ich mir selbst ein Label verpasse, würde mich das nur limitieren. Ich mache einfach das, worauf ich Lust habe. Und wenn ich etwas tue, versuche ich, dabei so präsent wie möglich zu sein. Egal ob ich gerade die »Lulu« singe, Mahlers Vierte dirigiere oder bei einem interdisziplinären Projekt mitmache. Im vergangenen März habe ich in der Elbphilharmonie zum Beispiel ein Konzert mit Werken von John Zorn gesungen, das hatte für mich dieses Gefühl des Außergewöhnlichen, weil ich mich selbst nicht als Jazz-Sängerin bezeichnen würde. Darum geht es auch gar nicht; es geht darum, Musik zu machen.
 

Barbara Hannigan und John Zorn in der Elbphilharmonie, 2022
Barbara Hannigan und John Zorn in der Elbphilharmonie, 2022 © Daniel Dittus

Den ersten Auftritt in Ihrem Elbphilharmonie-Portrait hätten Sie als Waldvogel in Richard Wagners »Siegfried« bestreiten wollen. Nicht unbedingt der Komponistenname, der einem als erstes bei Ihnen einfällt...

Weil meine Stimme keine Wagner-Stimme ist, deshalb. Der Waldvogel ist so ziemlich die einzige Partie, die ich von ihm singen kann. Als Simon Rattle mich 2006 das erste Mal fragte, ob ich das mit ihm machen will, sagte ich mir: Das ist eine schöne Gelegenheit, für kurze Zeit in dieses Milieu einzutauchen. Das ist genau die richtige Dosis für mich, denn die Wagner-Kreaturen sind wirklich spezielle Wesen.

 

Können Sie sich vorstellen, mehr Wagner zu machen, vielleicht nicht als Sängerin, aber als Dirigentin?

Sag niemals nie! Aber das ist keine Musik, mit der ich mich bisher intensiv auseinandergesetzt habe. Das »Siegfried-Idyll« oder das Vorspiel zu »Parsifal«, etwas in dieser Richtung könnte ich mir vorstellen zu dirigieren. Eine ganze Wagner-Oper würde ich für mich jedoch weniger in Betracht ziehen.

In Besprechungen Ihrer Aufnahmen und Auftritte tauchen oft Worte wie »grenzüberschreitend« oder – in einem guten Wortsinne – »irritierend« auf. Wollen Sie das: überraschen und unsere Hörgewohnheiten auf die Probe stellen?

Das steht nicht an erster Stelle. Zunächst einmal erlaube ich mir, frei zu sein. Viele meiner Performances haben einen starken Bewegungsaspekt, etwa als ich in »Passion« mit der Tanzkompagnie von Sasha Waltz gearbeitet oder als Lulu auf Spitzenschuhen getanzt habe. Natürlich bin ich keine ausgebildete Tänzerin, aber ich hatte ein tiefes Verlangen, es zu tun. Der Wille und die Vorstellungskraft sind unglaubliche Kraftquellen. So war es auch mit dem Dirigieren, auch hier waren Verlangen und Leidenschaft die Auslöser, es auszuprobieren. Ich habe nie gesagt: Das ist mein Stimmfach, deshalb sind das meine Rollen. Im Verlauf meiner Karriere gab es immer schon diese sozusagen grenzübergreifenden Projekte, geboren aus einem inneren Antrieb. Ich muss frei sein, körperlich und vokal – aber auch frei in der Wahl meiner Musik.

 

»Ich suche mir Projekte, in denen ich einen inneren Drang und ein Verlangen spüre. Das gibt mir die nötige Energie.«

 

Vermeiden Sie damit bewusst eine lähmende Alltagsroutine?

Das ist ein Ergebnis, aber nicht mein Antrieb. »Passion« zum Beispiel habe ich nicht gemacht, weil ich unbedingt tanzen wollte, sondern weil ich mit Sasha Waltz arbeiten wollte. Es hat also stark mit der Künstlerpersönlichkeit zu tun, es geht mir nicht darum, einfach andere Dinge auszuprobieren. So ist es auch bei »Electric Fields« mit den Labèque-Schwestern und Werken von Hildegard von Bingen. Deren Musik ist auf eine gewisse Art minimalistisch, so etwas singe ich gar nicht oft. Ich brauche also ein Projekt wie dieses, bei dem ich einen inneren Drang und ein Verlangen spüre, das gibt mir die nötige Energie.
 

Was erwartet das Publikum beim Multimedia-Projekt »Electric Fields«?

Es ist multi auf ganz unterschiedliche Weise: Wir haben diese alte Musik von Hildegard von Bingen aus dem 12. Jahrhundert, dazu gibt es Werke von Francesca Caccini, einer italienischen Opernkomponistin des Frühbarock, aber auch Live-Elektronik. Zu den historischen Komponistinnen treten dann die beiden zeitgenössischen Komponisten David Chalmin und Bryce Dessner – es gibt also Verschränkungen auf den unterschiedlichsten Ebenen. Und trotzdem wird der ganze Abend von einem großen Atem zusammengehalten, es gibt auch keine Pause oder Applaus zwischen den Stücken. Das Projekt ist also auf eine gewisse Art sehr modern, geht aber auch mehr als zehn Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück.

 

Welche Bedeutung hat das Wort »modern« für Sie als Künstlerin?

Schwierige Frage. Modern meint für mich: auf das Neue verweisen. Insofern können wir Schönberg eigentlich nicht mehr als moderne Musik bezeichnen. Am Anfang gehört er eher in die Spätromantik, die Zwölftonmusik bezeichnen wir dann als modern, weil sie für unsere Ohren offensichtlich nicht mehr romantisch klingt – aber das ist mittlerweile 100 Jahre her. Hier sind wir wieder bei der Problematik mit den Labels, denn sobald wir ein Etikett auf etwas kleben, packen wir es in eine Schublade. Ich bin hingegen ein Mensch, der Fragen statt Antworten bevorzugt. Ich mag das Geheimnisvolle, das Rätselhafte an der Musik. Natürlich versuche ich, Werke, die ich aufführe, zu verstehen, gleichzeitig geben sie aber niemals alles von sich preis, es bleibt ein letztes Geheimnis.
 

Andere Wege zu gehen, heißt aber auch: regelmäßig raus aus der Komfortzone. Ist das nicht anstrengend?

Ich habe gar keine Komfortzone, weil ich alles als Herausforderung betrachte. Komfortzone bedeutet für mich, dass Dinge mir leicht fallen, dass ich mich dafür nicht anstrengen muss. Das aber liegt nicht in meiner Natur, ich bin ein Arbeitstier: Ich liebe es, zu üben und zu studieren. Außerdem versuche ich immer, das nächste Level zu erreichen, selbst wenn es ein Stück ist, das ich schon x-mal gesungen habe. Man könnte also sagen, Risiken einzugehen, ist meine Komfortzone, sozusagen meine Werkseinstellung.

 

»Risiken einzugehen, ist meine Komfortzone.«

Bei Ihnen klingen selbst die schwierigsten Stücke immer so einfach. Kennt Ihre Stimme keine Grenzen?

Ich versuche, es leicht klingen zu lassen, weil ich möchte, dass das Publikum seine Aufmerksamkeit ganz der Musik schenken kann – und nicht meinen Anstrengungen, die Herausforderungen der Musik zu meistern. Wenn ich als Künstlerin, vor allem in Neuer Musik, mit meiner Interpretation die Botschaft vermittle, dass es kompliziert und komplex ist, überträgt sich das zwangsläufig auf das Publikum. Daher ist es mir wichtig, als Interpretin so tief wie möglich in die Musik einzutauchen und mich dort möglichst wohl zu fühlen, um eben nicht nur die Komplexität, sondern auch die Emotionen der Musik hörbar zu machen.
 

Mit den Göteborger Sinfonikern werden Sie in Hamburg auch in der Doppelrolle als Sängerin und Dirigentin auf der Bühne stehen. Sind Sie da singende Dirigentin oder dirigierende Sängerin?

Das ist auch wieder so eine Frage nach Labels, singende Dirigentin klingt doch fürchterlich, oder? Wenn ich singe, bin ich Sängerin; wenn ich dirigiere, Dirigentin. Beides zusammen mache ich übrigens gar nicht so oft.
 

 

Warum sind Sie überhaupt Dirigentin geworden, waren Sie als Sängerin nicht ausgelastet?

Mein Debüt als Sängerin habe ich sehr früh gegeben, mein Debüt als Dirigentin kam erst viel später, mit 38 oder 39, so um den Dreh. Es ging mir allerdings nicht darum, meinen Beruf zu wechseln, ich wollte einfach etwas erkunden, mich ausprobieren. Nach meinem Dirigierdebüt habe ich dann beschlossen, diesen Pfad weiterzugehen, ebenso wie den als Sängerin. Außerdem habe ich gemerkt, dass es sinnvoll sein kann, in Programmen beides zu kombinieren, weil ich so viel über das Dirigieren gelernt habe. Mir wurde klar, dass ich eine bessere Dirigentin war, wenn ich gleichzeitig gesungen habe. Warum? Weil der Atem eine bessere Verbindung herstellt. Als ich das herausgefunden hatte, fühlte ich mich als Dirigentin erst richtig wohl. Wenn ich nicht gut atme, wenn ich kein tiefes Gravitationszentrum habe, dann funktioniert mein Dirigieren nicht.


Hat umgekehrt auch die Sängerin von der Dirigentin gelernt?

Am Anfang war mir gar nicht klar, wie sehr. Vor allem habe ich ein besseres Verständnis für das ganze Bild bekommen, für jedes einzelne Teil, nicht nur für meinen Part. Außerdem wuchs mein Respekt für bestimmte Dirigentinnen und Dirigenten, mit denen ich als Sängerin arbeite – zu verstehen, wie sie sich einer Partitur annähern und wie nahe sie ihr dabei kommen. Es hat meine Sichtweisen auf ganz vielfältige Weise verändert: Es hat meine eigenen Maßstäbe erhöht und ich hoffe auch mein Mitgefühl mit meinen Kollegen.

 

Barbara Hannigan singt und dirigiert Kurt Weills »Lost in the Stars«

 

Wie klappt die Kommunikation mit dem Orchester, wenn Sie gleichzeitig singen, oft ja mit dem Rücken zum Ensemble?

Das Publikum sieht nur die Aufführung, die aber ist das Ergebnis eines intensiven Probenprozesses. In dem Moment, in dem wir die Bühne betreten, ist das, was ich als Dirigentin mache, vielmehr eine Erinnerung an die Übereinkünfte, die wir in der Probe geschlossen haben. Die Arbeit während der Probe ist eine ganz andere als bei der Aufführung, in der es dann nur noch um eine Serie von »kleinen« Signalen geht.


Bei Ihren Auftritten fällt auf, dass Sie sich viel bewegen, fast tanzen. Es sieht so aus, als ob Sie Musik mit dem ganzen Körper machen.

Richtig, wobei da jeder seine eigene Art hat. Manche Kolleginnen haben eine eher feste Säule, meine hingegen ist flexibel. Vor allem wenn ich singe, fühlt sich das einfach besser für mich an. Ich bewege mich nicht wegen des Show-Effekts, sondern weil es ein inneres Bedürfnis ist.


Ihre Interpretationen haben oft eine fast physisch wahrnehmbare Intensität, sogar auf CD. Wie erreichen Sie die?

Ich versuche das durch eine möglichst tiefe Verbindung mit der Musik. Diese besondere Verbindung habe ich zum ersten Mal vor gut zehn Jahren gespürt – das Gefühl, dass die Tür zur Musik immer offen steht und ich nicht jedes Mal nach dem Schlüssel suchen muss. Manche erreichen dieses Stadium früher, andere später. Bei mir fand dieser Prozess statt, als ich um die 40 war. Das war eine sehr intensive Phase in meiner Laufbahn mit der Partie der Lulu, mit »Written on Skin« und dem Beginn meiner Karriere als Dirigentin. Ich habe mit fünf Jahren angefangen Musik zu machen, es waren also 35 Jahre des Investierens, bis ich wirklich das Gefühl hatte, zum Kern vorgedrungen zu sein.

 

Interview: Björn Woll, 2022

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