Manfred Honeck

Europa in den Genen, Amerika im Herzen

Manfred Honeck, Chefdirigent des Pittsburgh Symphony Orchestra, über die Traditionen und Eigenheiten amerikanischer Orchester.

Im August gastieren gleich drei große amerikanische Orchester in der Elbphilharmonie: aus Pittsburgh, Philadelphia und Cleveland. Endlich wieder transatlantischer Besuch, nach der langen Corona-Durststrecke! Neben tollen Konzerterlebnissen auch eine gute Gelegenheit, die spezifischen Eigenheiten zu entdecken, die US-Klangkörpern immer wieder zugeschrieben werden. Aber stimmt das überhaupt? Wir haben nachgefragt bei Manfred Honeck, gebürtiger Österreicher und bereits seit 2008 Leiter des Pittsburgh Symphony Orchestra.
 

Herr Honeck, Sie dirigieren seit langem Orchester beiderseits des Atlantiks. Gibt es so etwas wie den typisch amerikanischen Orchesterklang?

Früher hätte man damit wahrscheinlich zwei Dinge gemeint: ungeheure Präzision und lautes Blech. Wie eine Maschine, eindrucksvoll, allerdings auch etwas kalt. Aber: Mit solchen Generalisierungen bin ich vorsichtig geworden. Erstens gab es große Entwicklungen; der Klang des Chicago Symphony etwa hat sich unter Daniel Barenboim und Riccardo Muti sehr gewandelt. Zweitens sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Orchestern einfach zu groß. Das ist in den USA nicht anders als in Europa – die Wiener klingen ja auch ganz anders als die Berliner Philharmoniker. Das macht es ja gerade so spannend! Und drittens kann es den einen Einheitsklang ja gar nicht geben; ein Beethoven wird ja doch immer anders klingen als ein Tschaikowsky.

Wie entsteht denn überhaupt der Klang eines Orchesters?

Der wird über Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte von den Chefdirigenten und ihren Persönlichkeiten geprägt. Nehmen Sie mein Orchester in Pittsburgh: Meine direkten Vorgänger waren Lorin Maazel und Mariss Jansons, die haben das Orchester jeweils acht Jahre lange geleitet. Ich bin jetzt schon seit 14 Jahren da und versuche natürlich auch, meine Vorstellungen umzusetzen. Die wiederum erwachsen aus meiner Herkunft und meiner musikalischen Sozialisation in Wien, aus der Tradition der österreichischen Volksmusik und der Wiener Klassik über die Romantik bis hin zu Gustav Mahler. Wie genau spielt man einen Ländler mit seinen rhythmischen Freiheiten? Schon Mahler hat gesagt: »Das Wichtigste in der Musik steht nicht in den Noten.« Ich sehe meine Mission in der Weitergabe dieses Wissens.

Über Manfred Honeck

Manfred Honeck
Manfred Honeck © Felix Broede

Es fällt auf, dass amerikanische Orchester gern Dirigenten aus Europa importieren. Großen Anteil am Aufstieg der US-Klassikszene nach dem Zweiten Weltkrieg hatten fünf Dirigenten, die allesamt in Budapest geboren wurden: Fritz Reiner, Eugene Ormandy, Georg Solti, George Szell und Antal Doráti. Heute heißen die Chefs Riccardo Muti, Andris Nelsons, Franz Welser-Möst und Manfred Honeck.

Nun ja, die Wiege der klassischen Musik stand nun einmal in Europa. Und nachdem sich die USA als Nation konstituiert hatten, entstand das große Bedürfnis, auch die Kunst voranzubringen und durch Berater aus dem Mutterland der Musik zu beleben. Das beste Beispiel ist Antonín Dvořák, den das New Yorker Konservatorium 1892 als Leiter verpflichtete – mit dem expliziten Auftrag, eine amerikanische Musik zu schaffen. Später haben dann die beiden Weltkriege dazu geführt, dass viele Künstler aus Europa in die USA emigrierten und dort das Kulturleben prägten. Der große Wunsch, in die Tiefe zu gehen und die europäische Musiktradition wirklich zu verstehen, hat sich jedenfalls bis heute gehalten. Und so habe ich das ungeheure Glück, mit erstklassig ausgebildeten Musikerinnen und Musikern arbeiten zu können, die gleichzeitig ungeheuer wissbegierig und enthusiastisch sind.

Manfred Honeck mit dem Pittsburgh Philharmonic Orchestra
Manfred Honeck mit dem Pittsburgh Philharmonic Orchestra © Unbezeichnet

Besteht Ihr Orchester in Zeiten der Globalisierung überhaupt noch überwiegend aus US-Amerikanern?

Ja, die große Mehrheit stammt aus den USA und hat auch hier studiert. Allerdings haben viele europäische, südamerikanische oder asiatische Wurzeln.

Mit der Zeit haben sich ja einige Spezialitäten herausgebildet. So gibt es die »amerikanische« Orchesteraufstellung, bei der die Streicher von links nach rechts aufsteigend sortiert sind: Erste Geigen, Zweite Geigen, Bratschen, Celli, Kontrabässe – im Gegensatz zur »altdeutschen« …

… bei der sich Erste und Zweite Geigen gegenübersitzen und dazwischen Celli und Bratschen. Dadurch entsteht eine Art Stereo-Effekt, die Zweiten Geigen kommen viel besser heraus. Für diese Sitzordnung haben alle Komponisten von der Wiener Klassik bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts ganz selbstverständlich geschrieben. Deshalb habe ich sie in Pittsburgh für dieses Repertoire eingeführt. Auch in der Elbphilharmonie werden wir so auftreten. Die amerikanische Aufstellung ist erst in den 1920er-Jahren entstanden, vermutlich durch das Aufkommen der Schallplattenindustrie: Für Tonaufnahmen mit nur einem Mikrofon war es sinnvoller, die Höhen auf der einen Seiten zu haben und die Tiefen auf der anderen. Es ist auch übersichtlicher, wenn das Orchester wie die Partitur sortiert ist. Und wenn Erste und Zweite Geigen unisono dieselbe Stimme spielen, ist das Zusammenspiel natürlich viel leichter, wenn sie direkt nebeneinandersitzen. Da haben wir wieder das Ideal der Präzision, dem im Zeitalter des Tonträgers gesteigerte Bedeutung zukam. Aber natürlich berücksichtigen wir bei der Sitzordnung auch die spezifische Akustik des jeweiligen Saales.

Amerikanische Orchesteraufstellung

Amerikanische Orchesteraufstellung Amerikanische Orchesteraufstellung © Shutterstock

Deutsche Orchesteraufstellung

Deutsche Orchesteraufstellung Deutsche Orchesteraufstellung © Shutterstock

Ähnliche Unterschiede gibt es bei Instrumenten: die deutsche Trompete mit Drehventilen und die amerikanische Variante mit Pumpventilen. Ist der klangliche Unterschied so groß?

Oh ja, absolut. Das deutsche Modell klingt weicher, mehr in Richtung Horn, das amerikanische brillanter. Mit seinen Pumpventilen lassen sich die Töne auch besser verschmieren, wie im Jazz, wenn es ein bisschen schmutzig klingen soll. Wir sind da flexibel und nutzen den Typus, der besser passt: für Brahms und Bruckner das deutsche Modell, für Strawinsky und Bernstein das amerikanische.

Eigentlich ein Vorteil an Variabilität gegenüber europäischen Orchestern, in denen die amerikanische Bauweise total verpönt ist.

Stimmt, wobei sich auch da allmählich das Bewusstsein für die erweiterten klanglichen Möglichkeiten durchsetzt. Das gilt übrigens auch für den Jazz: Neulich hat mir der Jazztrompeter Wynton Marsalis erzählt, dass er eine Vielzahl unterschiedlicher Trompeten nutzt, je nachdem, welchen Klang er haben will.

Die Deutsche vs. Amerikanische Trompete

Matthias Höfs mit einer deutschen Trompete

Matthias Höfs Matthias Höfs © Unbezeichnet

Louis Armstrong mit einer amerikanischen Trompete

Louis Armstrong, 1953 Louis Armstrong, 1953 © Library of Congress / Wikimedia Commons

Noch ein Unterschied: In Europa tritt zu Konzertbeginn das ganze Orchester gesammelt unter Beifall auf die noch leere Bühne. In den USA sitzen die Musiker meist schon im Saal und spielen sich ein oder tröpfeln nach und nach ein. Einen richtigen Auftritt mit Applaus hat nur der Dirigent, manchmal vorweg noch der Konzertmeister. Warum ist das so?

Also, der Soloauftritt des Konzertmeisters unterstreicht seine herausgehobene Stellung im Orchester, die aus einer Zeit herrührt, als es noch gar keine Dirigenten gab. Für den dezentralen Auftritt des Orchesters könnte es mehrere Gründe geben: Viele Musiker möchten im Saal bis zuletzt an ihren schwierigsten Passagen feilen. Und gerade für die Holzbläser ist es wichtig, dass sich ihre Instrumente an die Temperatur im Saal gewöhnen können, wo es meist wärmer ist als backstage.

Das ist ja in Europa auch der Fall. Aber vielleicht gibt es in den USA backstage einfach mehr Klimaanlagen …

[Lacht] Ja, das ist sicher so! Gut, es gibt noch einen weiteren Grund, über den ich eigentlich gar nicht sprechen sollte. Das Stichwort lautet »overtime«. In Amerika sind die Orchestergewerkschaften sehr mächtig, Proben- und Konzertzeiten sind genau festgelegt. Wenn es am Ende auch nur eine Minute länger dauert, kann uns das schnell ein paar Tausend Dollar an Extragagen kosten. Wir sparen also Zeit, wenn zu Beginn nicht erst minutenlang das Orchester auf die Bühne wandert, sondern das Konzert direkt beginnt. Mehr Zeit für die Musik.

Erstaunlich, was für profane Aspekte da hineinspielen.

Wobei das für mich absolut keine Rolle spielt. Mir ist es aus künstlerischen und menschlichen Gründen wichtig, dass sich die Musiker wohlfühlen. Und wenn sie sich vor dem Konzert gern auf der Bühne einspielen möchten, sollen sie das machen.

Letzter Punkt: das Repertoire. Kann es sein, dass die Hemmschwelle zu Filmmusik, Jazz und Pop in Amerika bedeutend niedriger liegt als in Europa?

Oh ja. In Pittsburgh haben wir sogar einen Principal Pops Conductor, aktuell der Jazztrompeter Byron Stripling.

Echt? Das wäre bei den Wiener Philharmonikern unvorstellbar.

Absolut. [Schmunzelt] Ich weiß noch, als ich noch in Wien war, wie Leonard Bernstein bei uns sein »Divertimento« dirigiert hat. Das war eine riesige Umstellung für uns, seinen Stil zu verstehen. In Pittsburgh war unser prominentester langjähriger Pop-Dirigent Marvin Hamlisch, der unter anderem das Musical »A Chorus Line«, den Titelsong zum Bond-Film »The Spy Who Loved Me« und viele Songs für Barbra Streisand komponiert hat. Erst kürzlich hat der große John Williams bei uns dirigiert. Unsere Musiker spielen Pop-, Jazz- und Filmmusik fantastisch, und solche Ausflüge sind eine ungeheure Bereicherung für die Klangkultur und die stilistische Flexibilität insgesamt. Auch hier sieht man wieder: Der Grundstock ist europäisch geprägt, aber die Liebe zum eigenen Land und zur eigenen Tradition ist mindestens ebenso wichtig.

Interview: Clemens Matuschek, Stand: 1.7.2022

Amerikanische Orchester in der Elbphilharmonie :Die Konzerte

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